Doping als Symptom der Moderne
Doping ist ein Allerweltswort, das heute in den verschiedensten Zusammenhängen vorkommt. Im engeren Sinne spricht man jedoch ausschließlich in Bezug auf Sport von einem Tatbestand wie Doping. Aber Doping gab es nicht schon immer. Tatsächlich zeigt die Entwicklung des Sports, dass Doping erst in einer Phase virulent wird, die durch eine fortgeschrittene Professionalisierung und Verrechtlichung des Sportgeschehens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eintritt. Hier entsteht auch erstmals das Bedürfnis, Doping zu definieren. Zwar gibt es Berichte über leistungssteigernde Mittel seit der Antike, allerdings fällt es terminologisch schwer, diese Vorgänge als Doping zu bezeichnen, da man weder in einem historisch adäquaten Sinne von »Sport« sprechen und zudem von einer «unerwünschten« Leistungssteigerung wohl nur kaum die Rede sein kann.1 Drogen, Stimulanzien oder Arzneimittel werden in einer noch undifferenzierten Sphäre von Kultus, Ritus und Wettkampf eingenommen und verabreicht. »The ancient Greeks supported the humanistic ideals that people were born into aristocracy and that one’s position in society was established through blood lines. Participants in the Olympic Games were eligible because of their place in society. That did not stop early reports of drug misuse. Galen, in the third century BC, reported that Greek athletes used stimulants to enhance their physical performance. At the ancient Olympic Games, athletes had special diets and were reported to have taken various substances to improve their physical capabilities. The winner of the 200 m sprint at the Olympic Games of 668 BC was said to have used a special diet of dried figs.«2 In diesen Kontext gehören auch Berichte über ungewöhnlich oder unglaublich große Mengen an Nahrung, die Athleten in der Antike zu sich genommen haben sollen. So wird über Milon von Kroton berichtet, dass er nicht nur einen ausgewachsenen Stier auf seinen Schultern rund um das Stadion getragen habe; er soll den Stier anschließend mit bloßen Händen getötet und am selben Tage aufgegessen haben. Daran zeigt sich nicht nur, dass die Griechen der Auffassung waren, es bestünde ein Zusammenhang zwischen exorbitantem Essen und ungewöhnlicher Kraft und Athletik, sondern zugleich auch die besondere Bedeutung, die der Stier in den Ländern im Mittelmeerraum besaß. Das schlägt sich auch in anderen Berichten nieder: So sollen bereits im dritten Jahrhundert vor Christus Stierhoden zubereitet worden sein, um die Leistung von Athleten zu erhöhen. Darüber hinaus gehört ein ganzes Arsenal von Arzneimitteln, Elixieren und Kräutern bereits in der Antike zum Umfeld eines erfolgreichen Athleten. Aber von Doping kann unter diesen Umständen nicht die Rede sein, denn selbstverständlich war diese Leistungssteigerung nicht verboten, sondern – im Gegenteil – erwünscht.
Doping ist insofern ein Problem der Moderne. Erst unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten Gesellschaft und unter der Voraussetzung des modernen Sports kommt es zu einer Definition verbotener Praktiken der Leistungssteigerung. Es fragt sich in erster Linie, wie eine Definition des Dopings tatsächlich und in historischer Perspektive zustande gekommen ist. Insbesondere ist dabei nach dem Sinn des Verbots zu fragen, das in der Dopingdefinition ausgesprochen wird. Es ist zu berücksichtigen, dass die faktischen Dopingdefinitionen stets einen praktischen Gebrauch hatten. Sie dienten und dienen dazu, bestimmte Praktiken im Sport zu ächten beziehungsweise Manipulationen im Sport auszuschließen und zu sanktionieren. Darum tendieren natürlich alle Definitionen letztlich zu einer juristisch handhabbaren Form.
Aus einem Rückblick auf vergangene Zeiten wird klar, dass der Sport erst mit der Moderne geboren wird. Für den Sport und die Athleten in großem Maße bedenklich wird der Gebrauch von Arzneimitteln erst mit der Entwicklung potenter Pharmaka – und mit der Professionalisierung des Sports. Erst wenn in den verschiedenen Formen der Sportausübung nicht nur Einzelne viel Geld gewinnen können, sondern ganze Industriezweige, deren Produktion und Vermarktung, mit dem Sport und den Protagonisten verknüpft sind, kann sich Doping als wesentlicher Bestandteil des Sportsystems etablieren. Damit folgt der Sport einem Zug, welcher der Moderne eigentümlich ist: Traditionale Verhaltensweisen werden aufgesprengt, neue Muster treten an deren Stelle. Eine normativ relativ homogene Sphäre wird durch partikulare und zentrifugale Kräfte erodiert. Zusammengehalten werden die neu entstehenden Gebilde durch ›abstrakte‹ gesellschaftliche Funktionen (Systeme) wie etwa Bürokratie, Recht, Geld, Wissenschaft. Sie lösen religiöse, familiäre und ererbte normative Orientierungen ab. Die dabei entstehenden Konflikte werden in den Organen der Gesellschaft ihren Funktionen entsprechend vermittelt, aber keinesfalls aufgehoben. Der Einzelne verhält sich den entsprechenden Funktionen gemäß und agiert als Bürger, als Inhaber von Rechten, als Konsument oder als Forscher, immer aber im Hinblick auf die abstrakte Funktion, die er, ob er will oder nicht, bedienen muss.
Mit einem gewissen Recht konnte sich der Sport eine gewisse zeitlang als Alternative zu den Entfremdungstendenzen der Moderne fühlen. Allenthalben, vor allem in der Zeit zwischen den Weltkriegen, transportierte der Sport Hoffnungen zumindest auf eine Kompensation der einseitigen Industriearbeit.
Zug um Zug hat die Professionalisierung diese Hoffnung verbraucht. Als Aufstiegsmöglichkeit für Einzelne, als kollektiver Traum einer prosperierenden Gesellschaft, als Identifikationsmedium einer identitätslosen Nation diente der Sport bald aus. Das Doping-Problem zeigt an, dass der Sport sich der Tendenz der Moderne nicht entziehen kann. Hier kommen dieselben Kräfte zum Tragen: Bürokratie, Recht, Geld, Wissenschaft.
1 Vgl.: Finlay, M. – Plecket, H. The Olympic Games; The first Hundred Years, London 1976; Baltrusch, Ernst: »Politik, Kommerz, Doping: Zum Sport in der Antike.« In: Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und Humanistische Bildung 104 (1997), S. 509-521; Egon Maróti: »Gab es Doping im Altgriechischen Sportleben?« In: Acta Classica universitatis scientiarum Debreceniensis 40/41 (2004), S. 65-71 – Verkürzend zum Thema: Waldbröhl, Hans-Joachim: »Leistung und Doping im Sport und in der Gesellschaft.« In: Das Anti-Doping-Handbuch. (Hg.) Nickel, Rüdiger – Rous, Theo. Bd. 1. Aachen 2007, S. 50-63; insb. S. 53.
2 Verroken, Michele: »Hormones and Sport. Ethical aspects and the prevalence of hormone abuse in sport.« In: Journal of Endocrinology 170 (2001), S. 49–54; hier: S. 49.