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Die gesellschaftliche Komplexität des Dopings

 

Für das Thema Doping ist es von erheblicher Bedeutung, die vielschichtigen Beziehungen von Sport und Gesellschaft zu durchleuchten, um danach die aporetische Diskussion des Dopings zu analysieren. Das ist von Karl-Heinz Bette und Uwe Schimank von soziologischer Seite aus umfassend analysiert worden.1 Dem gibt es wenig hinzuzufügen. Allerdings findet man verschiedene Argumentationslinien, die mit mehr oder minder suggestiven Strategien arbeiten und jeweils durch spezielle Reduktionen zu Einseitigkeiten führen. Im Folgenden möchte ich zwei dieser Strategien hier kurz benennen und kritisch hinterfragen. Ich möchte aufzeigen, welche komplexen systemischen Verflechtungen dadurch außer Acht bleiben. Die erste nenne ich die Spiegelbild-Argumentation, die zweite die Eigenwelt-Theorie. Ziel ist es dabei, die unausgesprochene Komplexität der Dopingproblematik zu Wort kommen zu lassen, ohne eine auf Vollständigkeit angelegte Beschreibung der systemischen Verflechtungen liefern zu müssen.

(1) Es ist ein Gemeinplatz zu behaupten, der Sport sei ein Spiegelbild der Gesellschaft.2 Diese Aussage ist ebenso suggestiv einleuchtend wie irreführend. Es hängt nämlich viel von der Perspektive ab, von dem Vergleichspunkt, unter dem man den Sport betrachtet. Zumindest zweierlei lässt sich einwenden: einmal verhindern die besonderen Sportregeln ein solches Abbildungsverhältnis; dasselbe gilt andererseits für die Tatsache, dass der Sport als ein Subsystem der Gesellschaft betrachtet werden muss.3 Der erste Aspekt betont die Spezialisierung des Sports in der Gesellschaft, der zweite die Subordination unter das gesellschaftliche Ganze. Spezialisierung und Subordination werden aber durch die »Spiegel«-Metapher oder durch eine Abbildungstheorie nicht erfasst.

Zunächst gilt es, die einfache Tatsache herauszustellen, dass der Sport eigene Regeln besitzt. Eigene Regeln, das bedeutet, dass sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht unmittelbar im Sport widerspiegeln können und umgekehrt. Das betrifft nicht nur die Spielregeln der jeweiligen Spiele oder die Wettkampfregeln der einzelnen Sportarten, das betrifft auch die Art und Weise, in der der Sport institutionalisiert ist. Wettkampfsportarten betreibt man in der Regel in Vereinen, die Vereine schließen sich zu Verbänden zusammen, die Verbände schließlich zu Dachverbänden und diese wiederum zu Weltverbänden. Innerhalb dieser Verbände gibt es Regelungen ganz eigener Art. Es sind keine staatlichen Gesetze, aber dennoch selbstverständlich gültige Normen; die Sportler müssen sich daran halten, solange sie Mitglied in einem Verein sind oder an Wettkämpfen teilnehmen wollen. Natürlich kann man aus einem Verein und den mit ihm assoziierten Verbänden austreten oder auch ausgeschlossen werden. Dann greifen die Regelungen nicht mehr. Es sind insofern Sonderregeln für einen bestimmten Bereich der Gesellschaft. In der staatlich verfassten Gesellschaft ist ein analoges Verfahren unmöglich: vor dem Gesetz sind schließlich alle gleich. Niemand kann ohne weiteres aus der Gesellschaft, in der er lebt, austreten. Denn es ist die Gesellschaft, die die Staatsgewalt hervorbringt, und mit ihr die gesetzlichen Normen, die letztlich regeln, was der Einzelne tun darf und wozu er verpflichtet ist. Insofern ist der Sport kein Spiegelbild der Gesellschaft: Sport kann ein schönes Hobby sein, dass man auch lassen kann, die gesetzlichen Normen der Gesellschaft sind hingegen ohne Ausnahme verbindlich. Der Sport ist in dieser Hinsicht auch nicht singulär. Es gibt zahlreiche solcher Sonderbereiche, in denen sich unbeschadet der staatlichen Regeln durch Gesetze Sonderregeln etablieren. Insofern ist die Spezialisierung der sportlichen Regeln nichts Besonderes, sondern geradezu typisch für einen ausdifferenzierten modernen, liberal verfassten Staat.

Aber auch in einer anderen Hinsicht ist der Sport nicht Spiegelbild der Gesellschaft, dann nämlich, wenn man den Sport als Teil der Gesellschaft betrachtet, als deren Subsystem. Die gesetzlichen Normen der Gesellschaft haben selbstverständlich auch für den Sport Geltung. Der Sport ist daher keine nomologisch autarke Sonderwelt.4 Das, was die Gesellschaft insgesamt konstituiert, darf auch im Sport nicht außer Kraft gesetzt werden. Insofern spiegelt sich im Sport nicht die Gesellschaft wider, sondern es ist die Gesellschaft selbst, die ihren Sport hat und die sich aufgrund eines grundgesetzlich geregelten Freiheitsrechts ihrer Bürger in ihrem Sport ausdrückt.5

Die Metapher vom Sport als Spiegelbild der Gesellschaft bezieht sich häufig darauf, dass man meint, im Sport Charakteristiken und Tendenzen beobachten zu können, die auch auf die Gesellschaft insgesamt zutreffen. Es gibt zahlreiche Punkte, an denen solche Konvergenzen zu beobachten sind. Dabei ist es wichtig zu prüfen, wie sachhaltig diese vordergründig einleuchtenden Parallelen sind. Hier dürften bloß assoziative und deshalb bloß suggestive Ähnlichkeiten sportlicher Phänomene mit gesellschaftlichen Praktiken nicht ausreichen. Das betrifft vor allem die Vorstellungen von Konkurrenz und Leistung; aber auch die Idee, der Sport könne eine Vorbildfunktion für die Gesellschaft haben. Gelegentlich hört man auch, fast entschuldigend, der Sport sei nur so gut wie die Gesellschaft. Diesen Raisonnements liegt eine naive Abbild-Theorie des Sports zugrunde. Hier ist Skepsis geboten, um nicht auf allzu simple Wirkungsmechanismen zu setzen, die sich auch in anderen Bereichen kaum nachweisen lassen. Die Spiegelbild-Theorie des Sports ist zu pauschal, um erklären zu können, wie Doping im Sportsystem funktioniert.

(2) Es findet sich aber auch die entgegengesetzte Argumentation: Der Sport bilde eine Eigen- oder Sonderwelt. Diese Redeweise ist bisweilen diffus, denn unter dem Begriff »Eigenwelt« versammeln sich sehr viele unterschiedliche Vorstellungen. Zunächst meint man damit eine gewisse Abgeschlossenheit des Sports gegen die gewöhnliche Lebenswelt. Man verweist gerne auf eine charakteristische Binnenstruktur mit eigenen Handlungsmustern und Ordnungsprinzipien. Man rückt den Sport in die Rolle einer Gegenwelt zur normalen Arbeitswelt. Man verklärt den Sport zu einem schönen Jenseits. Der Begriff Eigenwelt suggeriert ferner, es gäbe in der Sportwelt eine gewisse Autonomie sowie Vollständigkeit und Ganzheit, Attribute, die normalerweise dem Weltbegriff zugesprochen werden. Schwierigkeiten ergeben sich, wenn versucht die Eigentümlichkeit dieser Eigenwelt des Sports zu bestimmen. Diesen Aspekt betonen vor allem Vorstellungen, die den Sport unter gewissen Perspektiven als eine aus der Gesamtgesellschaft ausgegrenzte Sphäre betrachten. Hier ist genau genommen der Begriff Eigenwelt paradox, denn die Eigenheiten dieser Eigenwelt können nur im Kontrast gegen andere Welten überhaupt ausgedrückt werden, was aber zugleich dem umfassenden Weltbegriff widerspricht. Diese Widersprüchlichkeit konzentriert sich im Begriff der Grenze, die sowohl trennt und verbindet. Wäre hier weniger von einer Eigenwelt als von einer eigenen Sphäre die Rede, für die eine trennende und verbindende Grenze konstitutiv ist, könnten daraus fruchtbare Konsequenzen für eine Analyse des Phänomens des Sports in der modernen Gesellschaft gezogen werden. Der Begriff der Eigenwelt leugnet diese Grenze.

Unter dem Begriff der Eigenwelt des Sports werden ferner gewöhnlich folgende zum Teil heterogene Aspekte subsumiert:

  • die Autonomie des Sports als einer Welt für sich;

  • der Sport als Gegenwelt zur Arbeits- und Alltagswelt,

  • der semi-juridische Sportbereich des Sports, der durch die Sportregeln (allg. Wettkampfregeln, Sportspielregeln) konstituiert wird sowie

  • der von der Gesellschaft isolierte Handlungs-, Normen- und Ordnungsraum des Sports.

Daraus entsteht eine gemischte Vorstellung mit ganz unterschiedlichen Zielvorstellungen. In einer gängigen Variante wird etwa betont, der Sport sei eine Art Gegenwelt zur ›normalen‹ Arbeitswelt, eine Substitution, eine Reaktion auf die entfremdete kapitalistische Produktionsweise. Die Attraktivität des Sports, seine besondere ›Glaubwürdigkeit‹, beruhe folglich auf diesem Status einer Eigenwelt. Häufig uneingestanden wird damit die Hoffnung verbunden, der Sport könne aus seiner immanenten Verfasstheit, aus seinem Wesen heraus, emanzipatives Potential wecken. Dazu muss dem Sport eine besondere Ethik zugesprochen werden. Er sei nicht bloß durch eigene Regeln charakterisiert, bei denen Konkurrenz und Gerechtigkeit ausgemittelt werden müssten, denn das gibt es in sehr vielen anderen Bereichen auch. Für den Sport wird vielmehr eine besondere Form von Ethik gefordert, die auf die besonderen Werte sportlichen Verhaltens ausgerichtet sei.

Sport sei nicht mit denselben Maßstäben zu messen und nicht durch dieselben Kategorien zu beschreiben wie die Gesellschaft. So dürfte der lapidare Hinweis etwa auf das Stadionrund, das in zahlreichen Laufdisziplinen absolviert werden muss, nicht dazu tauglich sein, den Sport zu einer Eigenwelt zu stilisieren. Das Argument mündet in der Behauptung, dadurch gelinge es dem Sport, eine eigene nur im und für den Sport gültige Sphäre von Bedeutungen (analog zur Sprache und ihren Sprachspielen nach Wittgenstein) zu etablieren, sei diese nun semiotisch und symboltheoretisch oder gar ästhetisch begründet.6 Gerne knüpft man hier die Vorstellung an, der Sport sei per se unpolitisch, ein Freiraum, der besonders schützenswert sei. Hier so etwas wie die vermeintlich gesellschaftlich zweckfreie Bewegung zu vermuten, hieße, zahlreiche gesellschaftlich akzeptierte und praktizierte zyklische Tätigkeiten auf der eine Seite und den Begriff des Zwecks auf der anderen misszuverstehen: Es kommt dagegen wesentlich darauf an, darauf zu reflektieren, in welchem Rahmen man die sportliche Bewegung aufzufassen bestrebt ist. Eine selbstzweckhafte Handlung kann nur konstatieren, wer den Betrachtungsrahmen klein genug wählt. Zieht man Rahmen größer, fällt die gesellschaftliche und politische Bedeutung des Sports in die Augen. Bei der Betrachtung des Sports lässt sich der Bezugsrahmen aber nicht beliebig wählen. Genau das zeigt das Beispiel des Dopings, denn Doping ist nur als rationale Handlungsoption verständlich, wenn die gesellschaftliche Dimension des Sports berücksichtigt wird.

Anders als diese Neutralisierungsstrategien beschreiben soziologische und psychologische Beobachtungen tatsächlich eine soziale Isolierung, vor allem im Bereich des professionell betriebenen Sports.7 Diese zumeist kritischen Beobachtungen zeigen die Biographie des professionellen Sportlers auf eine gesellschaftliche Insellage reduziert. So kommt Christoph Binkelmann zu dem Schluss: »Entwicklungen im Hochleistungssport (so vor allem die Professionalisierung) haben dazu geführt, dass den Sportlern alle Besorgungen des alltäglichen Lebens sowie jeder Kontakt mit der realen Welt abgenommen werden. Dies führt zu einer Inklusion des Sportlers in die Sportwelt, der Sportler kann seine eigene Identität nicht aus einem plural verfassten kulturellen Angebot konstituieren, sondern bezieht sie nahezu ausschließlich aus dem Sport.«8 Die Eigenwelt ist unter diesem Blickwinkel gerade keine heile Welt, sondern eine gefährliche soziale Isolation des Sportlers.

Die Rede von der Eigenwelt des Sports ist also höchst ambivalent. Auf der einen Seite steht der Versuch – in einer reduzierten Perspektive –, Charakteristika bestimmter Sportarten zu isolieren, beispielsweise in Analogie zum Begriff des Spiels, um dann zu einer Definition des Sports fortzuschreiten, sei diese nun essentialistisch oder semiotisch-konstruktivistisch. Die funktionalen Verflechtungen des modernen Sports mit gesellschaftlichen Prozessen, ja, sogar mit der Globalisierung,9 werden dadurch ausgeblendet. Es entsteht eine moralische »Sportideologie«, in der es auf der einen Seite den »saube­ren«, »gesunden« und »natürlichen« Sport gibt und auf der anderen Seite dessen Bedrohung durch das Doping. Diese Argumentation ist nicht nur kurzschlüssig, weil sie die systemische Bedeutung des Dopings im professionellen Hochleistungssport verdrängt, sondern ist letztlich auch missbrauchbar. Sie wird, wie für Ideologien typisch, selbst für eine Medien- und Werbeindustrie funktionalisiert, oder dient sich ihr an, eine gewinnorientierte Industrie, die mit »sauberem« Sport gutes Geld verdienen will.10 Die vorgebliche Moral wirkt daher schnell bigott und heuchlerisch.11

Auf der anderen Seite spielt die Eigenwelt des Sports eine gewichtige Rolle in deskriptiv verfahrenden Disziplinen wie Soziologie und Psychologie, die konstatieren, dass das System des professionellen Hochleistungssports dazu tendiert, soziale Isolierung hervorzubringen, wie allein schon daraus erhellt, dass vom Sportler eine besondere soziale Anpassungsleistung an den Wettkampfsport gefordert wird.12

Schließlich gibt es die Seite der semi-juridischen Verfasstheit des Sports als Verbandsport. Hier gelten zwar besondere Regelungen, die aber letztlich den Boden des staatlichen Rechts nicht überschreiten dürfen. Dadurch entsteht keine Eigenwelt, sondern eine gesellschaftliche Binnenwelt, die, soziologisch betrachtet, keine Ausnahme darstellt, sondern neben vielen anderen Vereinen und Verbänden, Parteien und Gesellschaften angesiedelt ist, die jeweils durch besondere Regelungen konstituiert werden.

Als Schnittfeld von Sport und Gesellschaft wird regelmäßig das Leistungsprinzip genannt. Offenkundig gilt es in der Gesellschaft wie im Sport. Nur wer etwas leistet, ist erfolgreich. Nur wer in der Lage ist, seine Leistung zu steigern, ist dauerhaft erfolgreich. Angemessenen Lohn für seine Arbeit bekommt nur, wer leistungsfähig ist. Im Modell der Leistungsgesellschaft geht es darum, die Verteilung der Güter, zu denen Einkommen, Macht, Prestige und Vermögen zu zählen sind, aufgrund der erbrachten Leistung zu verteilen. Hier, so könnte man denken, gibt es eine lohnenswerte Parallele zwischen der Gesellschaft und dem Sport. Dabei zeigt der Sport stark komprimiert, wie Leistung und Erfolg zusammenhängen. Allerdings enden die Parallelen auch auf diesem Gebiet sehr schnell. Im Wettkampfsport zählt allein der Sieg. In den wirklichen westlichen Demokratien gibt es kein radikal durchgeführtes Leistungsprinzip, denn eine solche Gesellschaft wäre im Sinne von John Rawls eine zutiefst ungerechte und unsoziale Gesellschaft, weil sie nämlich den Gerechtigkeitsgrundsatz verletzen müsste, nach dem ökonomische »Ungleichheiten nur dann zu rechtfertigen sind, wenn sich aus ihnen Vorteile für jedermann ergeben, insbesondere für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft.«13 Eine vorschnelle Übertragung des Leistungsprinzips vom Sport auf die Gesellschaft hätte darüber hinaus mit dem Problem zu kämpfen, dass sich Leistung in der Gesellschaft nur sehr schwer definieren lässt, wie sich an der Diskussion über die gesellschaftliche und finanzielle Anerkennung von Haus- und Familienarbeit schnell zeigen lässt. Der Sport ist da unkomplizierter. Hier wird die Leistung in quantifizierbare Messgrößen übertragen oder durch ein Wettkampfrichtergremium mit weitreichenden Kompetenzen festgesetzt.14

Der Sport ist also weder eine klar abgegrenzte Eigenwelt und unabhängig von den Kräften der Gesellschaft, noch ist der Sport ohne eigene, charakteristische Merkmale. Genauso wenig ist der Sport ein Spiegelbild oder Abbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Tatsächlich sind die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Sport hochkomplex und lassen sich durch solche eindimensionalen Beschreibungen nur unzureichend charakterisieren.15

Doping ist in erster Linie ein Phänomen des Hochleistungssports. Es gibt zwar auch Dopingkontrollen im Breitensport, sie betreffen allerdings nur einen verschwindend geringen Prozentsatz der Aktiven.16 Doping ist ferner ein mediales Ereignis: der klassische Fall betrifft einen bekannten Athleten, der im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht, der sich national und international in Wettkämpfen bewährt hat, dem man eine Vorbildfunktion zuweist und bei dem ein überschrittener Grenzwert einer Dopingsubstanz festgestellt wird oder aber ein Indiz gefunden wird für eine mögliche verbotene Praktik, man denke dabei etwa an den aktuellen Fall Claudia Pechstein. Daraufhin gibt es Pressekonferenzen, Schuldzuweisungen und Entschuldigungen, Gegendarstellungen, schließlich kommt es möglicherweise zu einer Sperre des Athleten, dessen sportliche Karriere in der Regel damit beendet oder irreparabel unterbrochen ist. Dass gelegentlich auch im Breitensport Dopingfälle auftreten, bleibt weitgehend im Verborgenen.

Dieses Szenario zeigt ein klassisches Kräftefeld der Interessen, in das der Sport mitsamt des Dopingproblems eingebettet ist. Diese Kräfte lassen sich vier Bereichen zuordnen, die allesamt ökonomischen oder ideologischen Nutzen aus dem Sport ziehen: Medien, Wirtschaft, Medizin und Politik.17 Diese Interessen stützen sich auf Werte, die für den Sport charakteristisch sein sollen: Gesundheit, Natürlichkeit, Fairness, resp. Gerechtigkeit. Letztlich münden diese normativ aufgeladenen Zwecke in einer Beschwörung von Authentizität und Glaubwürdigkeit. Sport sei demgemäß ein authentisches Geschehen, in dem sich die natürliche Körperlichkeit des Menschen ausspricht. Der Wettkampf zwischen den Athleten soll durch besondere Fairnessregeln ausgezeichnet sein, die es den Protagonisten erlauben, einerseits glücklicher Gewinner und strahlender Sieger zu sein, andererseits aber auch in der Niederlage Größe zu beweisen. Neben der Natürlichkeit und der Authentizität des Sportgeschehens wird häufig die gesundheitsfördernde Wirkung der körperlichen Bewegung im Sport betont. Insgesamt folgt daraus die Legitimation des Sports sowie die Herausstellung der Vorbildfunktion des Sports, durch die der immense Aufwand an Geld und Mühe gerechtfertigt wird, der für die Erhaltung des Hochleistungssports aufgewendet wird.

Diese Vierheit von Werten regiert seit den fünfziger Jahren die Anstrengungen, Medikamentenmissbrauch im Sport zu ächten. Durch diesen Prozess ist ein semi-juristischer Begriff entstanden. Es ist für das Verständnis des Dopingphänomens sehr wichtig zu begreifen, dass es einen wichtigen Unterschied gibt zwischen den Verbandsregeln und dem juristischen Bereich gesetzlicher Normen. Als oberste Kontrollinstanz für das Doping agiert seit 1999 die WADA, die Welt-Anti-Doping-Agentur. Sie hat auf nationalen Ebenen ein Pedant, die NADA, die Nationale Anti-Doping-Agentur, die in Deutsch­land dem Stiftungsrecht unterliegt. Innerhalb dieses Organisationskomplexes gibt es ein Verfahren, in dem der World Anti-Doping-Code (WADC) von allen Teilverbänden und Mitgliedsvereinen akzeptiert wird. In der Einleitung zu diesem Code gibt es einen Abschnitt, der den Grundgedanken und die Motivation des Anti Doping-Codes vorstellt. Darin heißt es: »Anti-doping programs seek to preserve what is intrinsically valuable about sport. This intrinsic value is often referred to as ‹the spirit of sport’, it is the essence of Olympism; it is how we play true. The spirit of sport is the celebration of the human spirit, body and mind, and is characterized by the following values: ethics, fair play and honesty, health, excellence in performance, character and education, fun and joy, teamwork, dedication and commitment, respect for rules and laws, respect for self and other participants, courage, community and solidarity«18

Man muss dieser Auflistung der Ingredienzien des ›Sportsgeists‹ kein essentialistisches Bild des Sports unterstellen, also eine Bestimmung dessen, was das zeitlose Wesen des Sports ausmacht, um zu erkennen, dass die Formel der WADA ein Konglomerat von wünschenswerten Eigenschaften des Sportlers offeriert, das völlig heterogener Provenienz ist. Es handelt sich um eine lose Zusammenstellung, die dem eigentlichen Anti-Doping-Code vorangestellt ist. Der WADA-Code selbst stützt sich nur an wenigen, allerdings prekären Stellen auf den beschworenen Sportsgeist.19 Faktisch ist damit aber der ethische Hintergrund angegeben, auf dem die WADA den rigorosen Kampf gegen das Doping führen will.

Positive Werte lassen sich nicht einfach addieren oder assoziativ nebeneinanderstellen, ohne dass dabei störende Interferenzen auftauchen. Frieden, Gerechtigkeit, Solidarität mit den Schwachen, Freiheit des Einzelnen sind für unsere demokratischen Gesellschaften wichtige Werte. Aber sie können nicht alle zugleich und in jedem Fall und absolut gelten. Für bestimmte Bereiche des Lebens müssen diese Werte in eine Rangfolge gebracht werden, damit sie miteinander bestehen können. In vielen Situationen gelingt das nicht, was schwierige Wertkonflikte zur Folge hat. Häufig lassen sich Werte noch nicht einmal eindeutig hierarchisch ordnen, sondern führen in der Praxis zu aporetischen Situationen. Genau das geschieht mit den zentralen normativen Vorstellungen bei der Ächtung des Dopings.

1 Bette, Karl-Heinz – Schimank, Uwe: Doping im Hochleistungssport. Anpassung durch Abweichung. Erw. Neuauflage. Frankfurt a. M. 2006; Bette, Karl-Heinz – Schimank, Uwe: Die Dopingfalle. Soziologische Betrachtungen. Bielefeld 2006; Bette, Karl-Heinz: Systemtheorie und Sport. Frankfurt a. M. 1999.

2 »Der Sport ist eben ein Spiegelbild der Gesellschaft!« sagte der Fußballnationalspieler und heutige Manager der Fußballnationalmannschaft in seiner Vorlesung am Institut für Wirtschaftswissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin, die er dort am 14. April 2004 gehalten hat, und bezog sich damit auf Leistungsanspruch und Leistungsbereitschaft als Schlüsselbegriffe einer Erneuerung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. http://archiv.insm.de/Downloads/Word-Doku­men­te/040414_Vor­lesung_Bierhoff_final.doc (Stand: 6.9.2009)

3 Vgl.: Haag, Herbert: »Einführung.« In: Sportphilosophie. Ein Handbuch. (Hg.) Haag, Herbert. Schorndorf 1996, S. 8.

4 Gelegentlich problematisch bzw. umstritten ist die Frage nach der Körperverletzung, etwa bei Kampfsportarten wie beim Boxen oder, noch aktueller, beim Free Fight, den Mixed Martial Arts (MMA). Hier regelt der Paragraph 228 Strafgesetzbuch, dass eine Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Personen nicht rechtswidrig ist, solange nicht gegen die guten Sitten verstoßen wird.

5 Das Grundgesetz regelt in § 9, dass die Staatsbürger das Recht haben, Vereine, Verbände und Gesellschaften zu gründen. Auf deren interne Regelungen nimmt der Staat keinen Einfluss, solange sie sich im rechtlichen Rahmen bewegen. Streng genommen sind die Vereine und Verbände des Sports also nicht positiv im Grundgesetz verankert, sondern den Bürgern wird freigestellt, Vereine und Verbände zu gründen. Daher ist die rechtliche Verbindung von Vereins- und Verbandsnormen und gesetzlichen Regelungen nur sehr lose. Erst wenn es zu rechtlichen Streitigkeiten kommt, in denen Rechte eines Bürgers verletzt werden, kommt es zu rechtlichen Auseinandersetzungen vor der staatlichen Gerichtsbarkeit.

6 Letzteres versucht etwa: Nebelung, Tim: Sportästhetik. Sport als ästhetisches Erlebnis. (Schriften der Deutschen Sporthochschule Köln; 51) St. Augustin 2008. Nebelung vertritt die These, Sport sei ein ästhetisches Phänomen oder Erlebnis. Die Grenze zwischen Sport und Kunstwerk wird durchlässig – eine provokante These, auf die an anderer Stelle zurückzukommen sein wird. Ferner: Gregor, Kai: »Ansatzpunkte der Philosophie im Problemfeld ›Doping‹«. In: Was ist Doping? Fakten und Probleme der aktuellen Diskussion. Bielefeld 2010, S. 33-74, insb. S. 61-74.

7 Kauerhof, Rico: »Ein Anti-Doping-Gesetz als Garant für den sauberen Sport!« In: HRSS. Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung 8 (2007), H. 2, S. 71-75; hier S. 74f.

8 Christoph Binkelmann: »Was heißt Doping auf Französisch? Rechtliche, soziale und ethische Perspektiven.« In: Was ist Doping? Fakten und Probleme der aktuellen Diskussion. Bielefeld 2010, S. 163-190. Dort auch der Hinweis auf: Braun, Sebastian: Elitenrekrutierung in Deutschland und Frankreich. Sporteliten im Vergleich zu Eliten in Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Köln 1999.

9 Vgl. Schürmann, Volker: »Weltsport in Zeiten der Globalisierung.« In: SportZeiten 4 (2004) 2, 7-16.

10 Im Weißbuch Sport der Europäischen Kommission (2007) heißt es dazu: »Laut einer Studie während des österreichischen Ratsvorsitzes 2006 erwirtschaftete der Sport im weiteren Sinne einen Mehrwert von 407 Mrd. EUR im Jahr 2004, d.h. 3,7 % des BIP der EU, und beschäftigte 15 Millionen Menschen oder 5,4 % der Erwerbsbevölkerung6. Dieser Beitrag des Sports sollte in den EU-Politikbereichen deutlicher gemacht und gefördert werden.« (S. 12) http://ec.europa.eu/sport/white-paper/doc/wp_on_sport_de.pdf (Stand: 6.9.2009)

11 Hastedt, Heiner: »Doping als Herausforderung einer Ethik des Sports«. In: dvs-Informationen. Vierteljahresschrift der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft 17 (2002), 4, S. 10-14; hier insb. S. 12.

12 Vgl.: Binkelmann, Christoph: »Doping auf Französisch« – Der Begriff Eigenwelt, vor allem zusammen mit seinem Komplement, der Gegenwelt, stammt bekanntlich aus der Biophilosophie Jakob Johann von Uexkülls (vgl. beispielsweise Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin 1909, S. 195]. Weiterentwicklungen finden sich in der existentialistischen Psychologie Ludwig Binswangers, der wesentliche Impulse aus der Phänomenologie Husserls erhielt.

13 Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1975, S. 32. – Gleichwohl ist der Sport als Produkt der Moderne fest verknüpft mit der Entwicklung demokratischer Werte Allerdings lässt sich bereits in der Antike ein meritokratisches Prinzip erkennen, das offensichtlich in Athen mit dem Übergang von der Tyrannis zur Demokratie verbunden ist. Hier gibt es auch die Auszeichnung des Zweit- und Drittplazierten, nicht ein einziger siegt, sondern die Besten werden ausgezeichnet. (Für diesen Hinweis danke ich Christoph Binkelmann, Berlin)

14 Vgl. Emrich, Eike – Papathanassiou, Vassilios: »Regelstruktur, Regelüberwachung und –durchsetzung im Sport.« In: Sportethik. Regeln – Fairneß – Doping. (Hg.) Pawlenka, Claudia. Paderborn 2004, S. 61-72; insb. S. 68ff.

15 Dies stellt – in einer Variation dieses Themas – Volker Caysa fest, wenn er in Bezug auf die neuesten Entwicklungen zu dem Schluss kommt: es sei zu berücksichtigen, »dass die Sportphilosophie den Sport als Eigenwelt in Wechselwirkung mit der Lebenswelt analysiert, die er nicht bloß abbildet, sondern die er selbst wesentlich bildet. Der Sport ist nicht einfach durch die ermöglichende Lebenswelt bestimmt, er selbstbestimmt mittlerweile diese Lebenswelt wesentlich. In dieser Hinsicht ist seine Eigenwelt nur noch eingeschränkt eine Welt neben der Welt.« (Caysa, Volker: »Sportphilosophie als kritische Anthropologie des Körpers.« In: Philokles 2002, H. 1, S. 7-19, hier: S. 7.) Zuzustimmen ist der Analyse, dass es hier im Verhältnis von Sport und Gesellschaft keine einseitige Beeinflussungsrelation gibt. Hinzuzufügen ist aber, dass auch die von Caysa genannte Lebenswelt kein monolithischer Block ist, sondern in eine Vielzahl von Interessensphären zerfällt, wie sich insbesondere beim Sport und beim Doping zeigt.

16 Es gibt etwa 9000 Kadersportler in Deutschland, Sportler also, die regelmäßig mit Dopingkontrollen zu rechnen haben. Im Gegensatz dazu rechnet man mit 29 Millionen Breitensportlern.

17 Unter historischer Perspektive muss auch das Militär zu diesen Interessengruppen gezählt werden. Allerdings ist unter den Vorzeichen der westlichen Demokratien der Sport mehr oder minder unabhängig von militärischen Interessen, auch dann, wenn zahlreiche Sportler auch in der Bundesrepublik noch durch die Bundeswehr, den Bundesgrenzschutz oder die Polizei finanziert werden. Diese nationale Aufgabe des Sports, die uns noch aus der Zeit des Kalten Krieges bekannt ist, tritt heute deutlich zurück hinter dessen politischer Funktion. Zwar sind die nationalen Interessen am Sport nicht völlig ausgeblendet, denn tatsächlich orientieren sich die meisten Zuschauer bei Olympischen Spielen oder auch bei Fußballweltmeisterschaften an ihren nationalen Athleten, und auch die Medien berichten unter nationalen Vorzeichen über diese Großereignisse. So ist der Medaillenspiegel bei Olympischen Spielen für die Medienwelt auch heute noch keinesfalls unerheblich.

18 World Anti-Doping Code 2009: http://www.wada-ama.org/rtecontent/docu­ment/­code_v2009_En.pdf (Stand: 30.8.2009.

19 Vgl. dazu Grüneberg, Patrick: »Die Ambivalenz zwischen Therapie und Leistung.« In: Was ist Doping? Fakten und Probleme der aktuellen Diskussion. Bielefeld 2010, S. 121-142.