Navigation überspringen / Direkt zum Inhalt

Vom Doping zum Enhancement – und zurück

Einleitung

Die Diskussion über die Doping-Problematik im Hochleistungssport birgt neben vielen anderen si­cherlich zwei große Gefahren in sich: Erstens überschätzt sie das Problem und zweitens unter­schätzt sie das Problem. Mit diesen Möglichkeiten sind keineswegs sich gegenüber stehende Ex­trempositionen gemeint, vielmehr werden sie meist zugleich in einer Position realisiert. Denn sie entspringen beide der gleichen Einstellung dem Doping gegenüber, indem sie die Problematik allein auf den Sport, meist sogar nur auf den Hochleistungssport einschränken. Man unterschätzt nämlich das Problem, wenn man verkennt, dass es sich beim Einsatz von Substanzen und Methoden zur Leistungssteigerung um ein gesamtgesellschaftliche Phänomen handelt. Die Sportler machen da keine Ausnahme. Die Definition von Doping hebt vielmehr mit diesem Phänomen an und setzt da­für selbst gewählte Grenzen für die Teilnehmer im Wettkampfsport. Damit überschätzt man das Problem zugleich, da man die ganze Wucht an möglichen Argumenten gegen die Einnahme leis­tungssteigernder Mittel auf den Sport ablädt. Diese Argumente können moralischer, politischer, ökonomischer oder sozialer Natur sein, meist stellen sie jedoch ein gefährliches Gemisch aus welt­anschaulichen Überzeugungen und Eigeninteressen dar, die jede Doping-Diskussion in der Regel hitzig und wenig sachlich sein lässt.

Dabei gibt es in der Diskussion um gesamtgesellschaftliche Phänomene einen Begriff, der zumin­dest in großen Teilen eine ähnliche Problematik wie das Doping im Sport beschreibt, gemeint ist der Begriff des Enhancements. Wie das jüngst erschienene Memorandum von sieben Experten über das sogenannte Neuro-Enhancement zeigt (Galert et al. 2009), birgt die durch die modernen Lebenswis­senschaften ermöglichte pharmazeutische Steigerung der Leistungsfähigkeit gesunder Menschen nicht nur zahlreiche Vorteile für die zukünftige Gesellschaft. Sie eröffnet vielmehr einen unüber­sichtlichen Raum an ethischen, juristischen und sozialen Herausforderungen, der bislang noch nicht hinreichend analysiert worden ist. Es könnte auf den ersten Blick überraschen, dass sich die Enhan­cement-Diskussion in der Regel und nicht nur im zitierten Fall meist befürwortender den pharma­zeutischen Möglichkeiten gegenüber verfällt als im Vergleichsfall des Sportdopings. Aber warum sind gedopte Hochleistungssportler die alleinigen Sündenböcke, während der Student, der auf Am­phetamine oder Ritalin® zur Leistungssteigerung in seinen Prüfungen zurückgreift und sich so einen Vorteil gegenüber seinen Kommilitonen verschafft, zumindest nicht juristisch verfolgt wird und schon gar nicht moralisch verurteilt wird? Entspräche es nicht dem Ideal der ausgleichenden Gerechtigkeit, wenn man den Dopingsünder im Sport ein bisschen von dem weltanschaulichen Druck entlasten könnte, indem man einen Teil dieses Drucks auf den Studenten ablässt? Vielleicht verpufft der Druck ganz und gar. Vielleicht staut sich nur deshalb so viel Druck an, weil die weltan­schauliche Luft allein in die Enklave des Sports gepumpt wird.

Die hier beschriebene Möglichkeit des Druckausgleichs gründet auf einem Experiment mit offenem Ausgang. Welche Luft wohin gelangt, muss in einer umfassenden Untersuchung erörtert werden, die hier nur angedeutet werden kann. Denn glücklicherweise gibt es für dieses Experiment ein Vor­bild: In der französischen Forschung wird die Dopingproblematik seit mehr als 15 Jahren auf ein anderes, gesamtgesellschaftliches Phänomen zurückgeführt, das unter dem Begriff des Dopingver­haltens (conduite dopante) zu fassen ist. Die primäre Stoßrichtung dieser thematischen Verschie­bung manifestiert sich darin, dass sich der Begriff der »conduite dopante« der Beschränkung des Dopingbegriffs auf einen juristischen Tatbestand im Sport widersetzt und die Problematik auf die gesamte Gesellschaft ausdehnt. Doping im Sport ist insofern nur ein Sonderfall eines gesamtgesell­schaftlichen Phänomens, das in erster Linie und vor aller genaueren Bestimmung des Dopings un­tersucht werden muss. Die Unterscheidung von Doping und Enhancement ist im Begriff des Do­pingverhaltens1 von vornherein unterlaufen.

Dieser Begriff, der in der 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in die Forschung eingeführt wurde, geht auf einen der wohl einflussreichsten französischen Doping-Forscher, den Mediziner Patrick Laure, zurück. Er definiert dieses Verhalten folgendermaßen: »Ein Dopingverhalten besteht in der Einnahme eines Produktes zur Leistungssteigerung, um ein Hindernis, das wirklich oder nur nach der Meinung des Users bzw. seines Umfeldes existiert, anzugehen oder zu überwinden.« (Laure, 2000, S. 28)2 Auffällig an dieser Definition ist zunächst die Fokussierung auf die subjektiven Ab­sichten und Vorstellungen der betroffenen Person. Der Gebrauch dieses Begriffs bietet der For­schung laut Laure mehrere Vorteile, dazu zählen unter anderem die leichtere Operationalisierbar­keit, die Vermeidung des »reduktionistischen« Doping-Begriffs sowie die klare Abgrenzung von der Toxikomanie (Laure, 2002, S. 41ff.).

Der Begriff der conduites dopantes ist leichter auf empirische Begebenheiten anwendbar und damit in Studien und Forschungen heranzuziehen, da er sich auf beobachtbares Verhalten bezieht, das von Vorstellungen und Intentionen des Handelnden bestimmt ist. Diese können in geeigneter Form wis­senschaftlich erhoben werden (über quantitative wie qualitative Forschungsmethoden). Zielgruppe sind alle Menschen, nicht nur eine spezielle Gruppe, die glauben, eine Leistung erbringen zu müs­sen, die nicht notwendigerweise in so »einfachen« Kategorien wie Sieg oder Niederlage zu fassen ist. Des Weiteren ist dieses Verhalten nicht von vornherein auf rechtliche oder auch moralische Nor­men oder Verbote bezogen; zudem besteht nicht die Notwendigkeit, eine Liste von Dopingmitteln zu kennzeichnen, da vielmehr die Vorstellung und Absicht der Leistungssteigerung beim Konsu­menten ausreicht. Alles, was in der Absicht der Leistungssteigerung konsumiert wird, fällt unter das Dopingverhalten.3 Dagegen ist der Begriff des Dopings in den gerade erwähnten Hinsichten be­schränkt auf Sportler unter Wettkampfregeln sowie auf eine von der WADA vorgegebene Liste an verbotenen Substanzen und Methoden. Laut WADA befinden sich diejenigen Substanzen und Me­thoden auf der Liste, die gegen mindestens zwei der folgenden Kriterien verstoßen: Sie besitzen das Potential oder die Eigenschaft der Leistungssteigerung, sie sind gesundheitsgefährdend, sie wider­sprechen dem Sportsgeist.4

Doping als juristischer Tatbestand bereitet mehrere Definitionsprobleme. Auch die Lösung durch Einführung einer Liste ist davon nicht ausgenommen. Zudem wirft bereits die Bestimmung des Per­sonenkreises Schwierigkeiten auf: Handelt es sich dabei nur um Hochleistungssportler, Profis oder auch um Amateure, gar um Breitensportler? Gerade in juristischer Hinsicht und unter Rücksicht auf die Reichweite der Kontrollen harren diese Fragen einer Antwort. Zuletzt verlangen die normativen Grundlagen, wie insbesondere der Rekurs auf den Sportsgeist im WADA Code, definitorische Ge­waltakte. Der Begriff des Dopingverhaltens unterläuft hingegen diese Schwierigkeiten. Er nimmt zudem Bezug auf das Doping, insofern es als ein Spezialfall von Dopingverhalten zu gelten hat.

Die erwähnte Abgrenzung des Dopingverhaltens zur Toxikomanie ist erforderlich, um das Phäno­men seinerseits einzugrenzen. Im englischen Sprachraum wird meist undifferenziert von drugs ge­sprochen, auch wenn speziell von Doping die Rede ist. Die Einnahme von Drogen dient aber ande­ren Zielen als denjenigen der Leistungssteigerung. Patrick Laure bestimmt die Intention bei der Drogeneinnahme als Suche nach Empfindungen (sensations; vgl. Laure, 2002, S. 41). Diese Unter­scheidung setzt erneut bei der Absicht des Konsumenten ein, so dass ein und dasselbe Mittel einmal als Doping, das andere Mal als Droge benutzt werden kann; ebenso möglich sind natürlich auch Mischformen. Man denke nur an die Praktiken von Künstlern, die seit Menschengedenken die Ein­wirkung spezieller Mittel zur Steigerung ihrer Kreativität und zugleich zur Erweiterung ihres Be­wusstseins schätzen. Wir werden auf diese Unterscheidung zurückkommen.

Der Begriff der conduites dopantes weist auf eine Gemeinsamkeit von Sport und Gesellschaft hin. Ob beim sportlichen Wettkampf, beim Einstellungsgespräch oder bei der Führerscheinprüfung – häufig wird heutzutage auf »Hilfsmittel« zur Erbringung einer höheren Leistung zurückgegriffen. Kraft dieses Begriffes lässt sich auch das Thema »Doping« aus einer psychologischen, soziologi­schen und philosophischen Perspektive untersuchen, ohne eine starke Trennlinie etwa zwischen Do­ping und Enhancement ziehen zu müssen.5 Die Ausdehnung der Problematik auf die Gesellschaft als ganze erlaubt zudem eine Erweiterung des wissenschaftlichen Instrumentariums. Vor allem die sozialpsychologischen Analysemittel, die bereits für andere Bereiche als den Sport bereitstehen, können so genutzt werden. Viele Texte aus der französischen Doping-Forschung nehmen daher das Dopingverhalten zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchung.

Die zentralen Merkmale, welche diese Perspektive mit sich bringt, lassen sich, mitunter auch in Ab­grenzung zum Dopingbegriff, wie folgt veranschaulichen: Erstens ist der für ein Verständnis des Dopingverhaltens zentrale Begriff derjenige der Leistung; ihm wollen wir daher das anschließende Kapitel widmen. Darin wird es um die sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen des Doping­verhaltens gehen. Ebenso setzt die Definition des Dopingverhaltens einen starken Akzent auf die Vorstellungen, Motive und Ziele des handelnden Subjekts; es geht – anders gesagt – um Identitäts­bildungen, die gerade in pädagogischer Hinsicht beleuchtet werden. Für jegliche pädagogische Her­angehensweise an das Doping ist das Dopingverhalten der entscheidende Ansatzpunkt (Guy, 2002, S. 13).

Zweitens unterwandert die Verrechtlichung, die im Dopingbegriff wirksam ist, immer schon die Per­spektive der ersten Person. Dem Recht, wie auch der Politik, geht es um das reibungslose Zusam­menspiel von Subjekten, das zu diesem Zweck an eine dritte Person (Richter, Staat) delegiert wird, um die Neutralität zu garantieren. Dadurch wird die Ich-Perspektive des dopenden Subjekts beim Doping notwendigerweise ausgeblendet. Hingegen beim Dopingverhalten erhält diese Perspektive wieder ihr Recht. Das ist auch der Grund, weshalb die Forderung einer Dopingethik aus der Per­spektive des Subjekts zumindest in der Logik dieser Forschung liegt. Wir werden diese Punkte im Folgenden anhand der französischen Forschungsliteratur in zwei Kapiteln über die sozialen und ethischen Dimensionen, ausführen.

1. Die soziale Dimension des Dopingverhaltens

Die Verbindungslinie vom Doping im Sport zum gesamtgesellschaftlichen Dopingverhalten ist zum großen Teil von der Leistungsvorstellung getragen.6 Sowohl im Sport als auch in der Gesellschaft gilt Leistung als dasjenige Kriterium, das über sozialen Status und Anerkennung entscheidet oder zumindest nach landläufiger Meinung entscheiden sollte. Die geschichtliche Entwicklung zu einer Leistungsgesellschaft, die zufolge des gleichnamigen Buches des französischen Soziologen Alain Ehrenberg gar einen Leistungskult (culte de la performance, 1991) praktiziere, wird bekannterma­ßen im Zeitalter der Aufklärung, speziell im Hinblick auf ihre republikanischen Ideale, verstärkt vorangetrieben. Gerade die Französische Revolution versuchte, die auf Autorität und Herkunft gründende gesellschaftliche Hierarchie zu ersetzen. Allgemein beschrieben wurde damit ein Prozess in Gang gesetzt, der den Wert eines Menschen weniger vom ascribed status als vom achieved status abhängig machte. Die meritokratische Tendenz der modernen Gesellschaft weist auf den ersten Blick eine nicht zu leugnende Parallele zum Leistungsstreben im Sport auf.

Wie diese Parallelität entstanden und wie sie zu deuten ist, schildert die Pariser Philosophin Isabelle Queval im Buch S'accomplir ou se dépasser. Essais sur le sport contemporain (2004). Ihre Einord­nung des Sports als gesellschaftliches Phänomen bekennt sich hinsichtlich der Dopingproblematik explizit zur Laures Erweiterungsbegriff der conduite dopante (Queval, 2004, S. 261). Dem gegenüber verwehre die Stigmatisierung des Dopings im Sport einen nüchternen Blick auf die Tatsache, dass das Dopingverhalten bereits in der Ideologie der bis heute währenden Gesellschaftsform verwurzelt ist (ebd. S. 328). Zur Bestätigung dieser These unternimmt Queval die Darstellung der komplexen Entwicklungslinien in Sport und Gesellschaft von der Antike bis heute.

Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Unterscheidung zweier Vorstellungen über die Bestimmung des Menschen, die im Titel bereits anklingen: s'accomplir ou se dépasser, Vervollkommnung oder Über­bietung. Im antiken Selbstverständnis, das sich in vielen Bereichen der Gesellschaft dokumentiert, gehörte es zur wesentlichen Bestimmung des Menschen, seine eigene Natur als die in ihm liegende Potentialität zu verwirklichen. Der Mensch verfügt über ein vorgegebenes Ziel (telos), zu welchem er sich zu vervollkommnen hat. Das antike teleologische Weltbild definierte klare Grenzen für den Menschen, deren Einhaltung von ihm forderte, maßzuhalten und ein Gleichgewicht an Kräften zu etablieren. Dieser Vorgabe leisteten unter anderem die körperlichen Ertüchtigungen (Gymnastik) und die Diätik Genüge (ebd. S. 21ff.). Innerhalb seines festumrissenen Platzes im Kosmos führt der Mensch ein ausgewogenes Leben, ein Verstoß dagegen wird als hybris (Vermessenheit) gebrand­markt.

Die philosophischen und naturwissenschaftlichen Neuerungen der Neuzeit bereiten hingegen den Übergang zu einem Menschenbild der unendlichen Perfektibilität (ebd. S. 79ff.). Dieser vor allem auf Rousseau (Rousseau, 1983, S. 188/189) zurückgehende Begriff sieht es als Eigenart des Men­schen an, in seiner Selbstverwirklichung keine Grenzen zu kennen. Maßlosigkeit und Grenzenlosig­keit werden zu positiv besetzten Werten menschlicher Selbst- und Natur-Überwindung. Dieser Wan­del vollzieht sich mit der Ablösung des streng hierarchischen christlich theozentrischen Weltbildes zum anthropozentrischen Weltbild der Aufklärung. Der moderne Mensch entsteht gerade durch die Abkehr von allen äußeren Grenzen, wie man eine vorgegebene Natur im Kosmos oder eine feste Stellung vor Gott deuten kann, mithin gehört die permanente Selbstüberbietung zu seiner neuen Wesensvorstellung.

Diesen Wandel belegt Queval in unterschiedlichen Bereichen wie der modernen Medizin, die statt Maßhalten die ständig zu verbessernde technische Beherrschbarkeit des menschlichen Körpers ins Zentrum ihrer Bemühungen stellt. Im Sport erkennt man eine ähnliche Tendenz. Um dies darzule­gen, problematisiert Queval zunächst den Begriff »Sport«, indem sie dessen Entstehung in England schildert (ebd. S. 157ff.). Die nicht-kompetitiven Aspekte der körperlichen und sportlichen Aktivitä­ten werden mit der Entstehung des modernen Sports gegen Ende des 19. und schließlich zunehmend im 20. Jahrhundert immer mehr verdrängt zugunsten einer Veranstaltung, welche in Zuspitzung der kompetitiven Situation von den Sportlern ständig neue Rekorde fordert. Die soziale Ideologie der Leistung, die sich nur in permanenter Steigerung gegenüber den Vorleistungen demonstriert, zeigt sich im Sport in komprimierter, zugespitzter Form.

Queval betont jedoch gegenüber einer einseitigen Sichtweise, dass sich auch im heutigen Sport im­mer noch antike Vorstellungen halten und gegen die Vereinnahmung durch die kompetitive Vorstel­lung wehren. Interessanterweise manifestiert sich dieser Konflikt noch heute in der Bezeichnung des französischen Sportunterrichts an Schulen. Dieser heißt éducation physique et sportive (E.P.S.), Leibes- und Sporterziehung, und enthält sowohl antike Ideen wie Gesundheit und Maßhalten als auch moderne Sportwerte wie Selbstüberbietung und Leistungssteigerung (ebd. 143ff.). An dieser Stelle ließen sich Maßnahmen entwickeln, die der Ausbreitung des Dopingverhaltens bereits in der Schule Einhalt gebieten. Der Sportunterricht hätte das Gewicht der körperlichen Erziehung schlicht­weg zu erhöhen und die kompetitiven Anteile (die benotet oder bewertet werden) zu reduzieren.

Aufgrund dieser Perspektive, die im neuzeitlichen Menschenbild die permanente Tendenz zur Leis­tungssteigerung verortet, betrachtet Queval auch die Dopingproblematik als gesamtgesellschaftli­ches Dopingverhalten. Sie bemängelt, dass die mit diesem Verhalten verbundene Problematik wei­testgehend banalisiert wird, sofern sie auf die Gesellschaft und nicht speziell auf den Sport bezogen wird. Dort erfolgt hingegen die umgekehrte Logik einer Verteufelung der Gedopten auf der Grund­lage aufklärerischer Werte wie Chancengleichheit und Reinheit: »Der Sport ist auch Opfer des My­thos von seiner Reinheit. Die gedopten Champions sind die Sündenböcke, die in einer angeblich ge­schützten Welt eines besonderen Betrugs angeklagt werden, während überall anderswo, außerhalb des Schraubstocks dieser vorgeführten Ideale, der Betrug, das ›Vitamin B‹, die Korruption und das Doping existieren.« (ebd. S. 295)7

Die eingeschränkte Thematisierung des Dopingverhaltens in Form des Sportdopings entlarvt Que­val als einen sozialen Abwehrmechanismus, der an die alten biblischen Praktiken der Ernennung ei­nes Sündenbocks erinnert. Um von den eigenen akuten Problemen abzulenken, wird ein Sonderbe­reich auserwählt, in dem alles »viel schlimmer ist als bei einem selbst«. Folgt man dieser These, wird schnell klar, dass eine Ausweitung der Thematik auf die gesamte Gesellschaft einerseits dazu führen könnte, dass das Thema »Sportdoping« vom christlich inspirierten binären Moralismus (Du­ret, 2004, S. 167f.) befreit wird und endlich nüchtern betrachtet werden kann; andererseits könnte dann eine gesellschaftliche Selbstthematisierung in Gang gesetzt werden, in der fremde Schuldzu­weisung nicht mehr so einfach von der Hand geht. Wir begegnen hier der oben bereits angedeuteten Tendenz im Begriff der conduite dopante, von der dritten Person- zur ersten-Person-Perspektive zu führen: Dopingverhalten betrifft jeden und nicht nur die Anderen (Sportler).

Die Pflicht zur Leistung stellt auch für den Pariser Psychiater Michel Hautefeuille einen wesentli­chen Grund des sozialen Dopingverhaltens dar, wie er in seinem Buch Dopage et vie quotidienne (2009) darlegt. Für ihn vollzieht sich hinter dieser Entwicklung die nicht mehr zu stoppende Entste­hung eines neuen Menschentypus, des homo syntheticus. Eine Einschränkung oder gar ein Verbot von lei­stungssteigernden Mitteln in Beruf und Alltag sind insofern unmöglich, als Leistung und Stressbewältigung, zur Erbringung von noch mehr Leistung, inzwischen gesellschaftlich dermaßen verankert sind, dass die entsprechenden Mittel der Umsetzung sozialer Normen dienen (Hautefeuil­le, 2009, S. 169). Auch die zunehmende Automedikation, die vor allem das Internet und allgemein: die Globalisierung befördern, setzt diesen Trend fort.

Zentral ist, dass heutzutage auch ein Wandel in der Gesundheitsvorstellung zu verbuchen ist, der das ehemalige Argument gegen Doping umgekehrt: »Heutzutage bedeutet ›bei guter Gesundheit zu sein« eine Leistungskonstanz zu besitzen, die selbst die Roboter aus den Science-Fiction-Romanen nicht erreichen können: Konstanz in der körperlichen Leistung, Erhalt der Schönheit, die intakte Fä­higkeit nachzudenken und zu lernen. Als hätte der Mensch es geschafft, die Zeit anzuhalten.« (ebd. S. 185)8 Der geschichtliche Wandel eines Begriffes mündet nachgerade in sein anfängliches Gegen­teil: Wenn Gesundheit impliziert, dass man bis ins hohe Alter fähig ist, körperliche Leistungen zu erbringen, schön zu sein und dem von der Gesellschaft vehement verlangten lebenslangen Lernen gerecht zu werden, dann fördern viele Dopingmittel die Gesundheit, selbst wenn sie zu einem frü­hen Tod führen.

Hautefeuille unterscheidet in seinem Buch über den homo syntheticus nicht Drogen von Dopingmit­teln; deshalb ist auch der Lei­stungsbegriff nur ein mögliches Ziel von vielen, das zu seiner Errei­chung künstliche Mittel verlangt. Dagegen ist gerade die Verschiedenheit von Doping und Drogen ein wesentlicher Ausgangspunkt für die Untersuchung des Dopingverhaltens, wie auch Patrick Mi­gnon betont (2002). Danach gründe die Verschiedenheit auf der jeweiligen Zielrichtung beim Ein­satz der Mittel. Während die Drogen eine Flucht vor der Realität, eine Hinwendung in die inneren Traum- und Phantasiewelten ermöglichen, liege im Doping die Tendenz zum Sich-Anpassen an die Forderungen der Realität (Mignon, 2002, S. 24).

Obwohl es der betreffende Text nicht bemerkt, finden sich die Grundlagen dieser Unterscheidung in Sigmund Freuds Entgegensetzung des Lust- und des Realitätsprinzips, die jeweils das Handeln des Menschen steuern (Freud, 1987; 1994). Während das erste Prinzip die unmittelbare Befriedigung der je eigenen Bedürfnisse reklamiert, fordert das andere eine Anpassung an die Bedingungen der Umwelt. Herbert Marcuse hat viele Jahre später (1955) dargetan, dass auf Grund gesellschaftlicher Entwicklungen man hinter dem Realitätsprinzip das Leistungsprinzip zu vermuten habe. Diejenige Forderung, die den heutigen Menschen dazu nötigt, sich den Bedingungen der Realität zu fügen, ist diejenige nach Leistung. Leistungsdruck ist Anpassungsdruck. In dieser Hinsicht können wir heut­zutage im Doping eine weitere Stärkung des Realitätsprinzips beobachten.

In dieser Rücksicht verweist Mignon auch auf den Zusammenhang von Rationalisierung und Do­ping. Bereits John Hoberman hat Mignon zufolge darauf aufmerksam gemacht, dass dasjenige kul­turelle Modell, das im Sport dominiert, darin besteht, den Menschen (bzw. dessen Körper) als Ma­schine zu betrachten.9 Der Wert einer Maschine errechnet sich aus Leistung und/oder Geschwindig­keit (Mignon, 2002, S. 25). Die Maschinenanalogie gewährleistet eine höhere Berechenbarkeit der Leistungen durch naturwissenschaftlich-technische Maßnahmen, die letztlich zu höheren Leistun­gen führen sollen. Diese technische Rationalisierung (als Überführung sämtlicher Bereiche in die quantitative Berechenbarkeit) im Sport umfasst die Medikalisierung, die Professionalisierung sowie die Politisierung.

Die Medikalisierung des Sports besorgt die Sportmedizin, die aus einem Wandel im Selbstverständ­nis der Medizin von einer kurativen oder therapeutischen zu einer leistungssteigernden Zielsetzung entstand bzw. dieses Selbstverständnis auch zu großen Teilen mit geprägt hat. Neben Queval ver­weist darauf, mit speziellem Hinblick auf Frankreich, Christophe Brissoneau (2006). Er untersucht den Einfluss, den die französische Sportmedizin auf das Doping im Spitzensport seit den 60er Jah­ren ausübt. Dabei konkretisiert er den Übergang von einer kurativen zu einer Leistungsmedizin: Ne­ben der Optimierung von Trainingsmethoden und der Verwissenschaftlichung (Objektivierung) von Gesundheit als ein herzustellendes, nicht zu praktizierendes Gut10 gehört dazu auch die Verwendung von Dopingmitteln. »Fazit: Durch ihren engen Kontakt mit dem Spitzensport wurde die Sportmedi­zin zu einem der Faktoren, die den Übergang vom ›wilden‹ (auf persönlicher Empirie beruhenden) Doping zu einem wissenschaftlichen (abgesicherten) Doping begünstigt.« (Brissoneau, 2006, S. 110)

Ein weiterer Punkt der Rationalisierung ist die Professionalisierung oder auch De-Amateurisierung im Sport, die eine Zunahme an Konkurrenzgeist unter den Sportlern bewirkt. Der Sport wird immer weniger als Zweck an sich selbst angesehen, vielmehr als Mittel, um etwas (familiäre oder soziale Anerkennung, Geld) zu gewinnen (Mignon, 2002, S. 27f.). In dieser Hinsicht klingen die ethischen Argumente gegen das Sportdoping, die sich auf die Interesselosigkeit des Sportspiels berufen, wie ein naiver Idealismus: »Wenn der Sport Mittel der Existenz und/oder des sozialen Aufstiegs wird, verliert das Prinzip des Desinteresses seinen Sinn.« (Laure, 2000, S. 49)11

Die dritte Rationalisierung des Sports, dessen Politisierung, vollzog sich bereits zwischen den bei­den Weltkriegen, steigerte sich im Kalten Krieg und wird heutzutage durch die ökonomischen Inter­essen der Staaten weitergetrieben.12 Alle diese Phänomene führen nach Mignon letztlich dazu, dass der Sport zunehmend instrumentalisiert wird; sie sind offensichtlich Faktoren, die das Dopingver­halten im Sport befördern können, wenn nicht sogar notwendig machen.

Mignon wirft ferner die Frage auf, ob es sich bei Doping im Sport um einen Fall von Devianz han­delt. Er verweist auf Lüschen als Befürworter der Devianzthese. Unter Devianz wird nach funktio­nalistischer Tradition das Zurückweisen kulturell akzeptierter Ziele und legitimer Mittel verstanden. Sie entspringt einer schlechten Sozialisierung bzw. einem Nicht-Funktionieren der Gesellschaft (Mignon, 2002, S. 31).Es geht folglich darum herauszufinden, welche Normen im Sport Gültigkeit besitzen. Mignon betont an dieser Stelle die Umkehrung vieler Normen im Sport im Vergleich zur Gesellschaft: exzessive Geschwindigkeit, hohe Aggressivität, die gegenseitige Umarmung von Personen gleichen Geschlechts (z.B. beim Torjubel), riskantes Verhalten und autoritäre Trainer sind Beispiele, die im Sport toleriert oder sogar geschätzt, in der Gesellschaft hingegen zu Recht scharf kritisiert werden. Der Sport bildet eine Eigenwelt mit eigenen Normen, die nicht immer Vorbild für die Gesellschaft sind. Es ist deshalb fraglich, ob vom Doping gefährdete Werte wie Sauberkeit, Glaubwürdigkeit oder Fairplay überhaupt reale Normen im Sport darstellen. Auch die normative Erwartungshaltung, dass der Sportler bis an die Grenzen des Möglichen und Erlaubten (»jouer aux limites«) zu gehen hat, spricht keineswegs dafür, dass Doping als klassische Form von Devianz zu betrachten ist – eher im Gegenteil.

Beurteilt man Doping als klassische Devianz, so führe dies Mignon zufolge weitere Probleme mit sich. Zum einen verstärkt der Kampf gegen Doping – bessere Detektionen, höhere Strafen, umfas­sende Erziehungsmaßnahmen – Formen der Hyperkonformität, ihm liegt eine stark moralisierende Vision zugrunde. Demgegenüber ist der Sportler, auch und gerade wenn er dopt, bereits hyperkon­form. Er gehorcht den Normen des Hochleistungssports und will eben im Spiel bleiben; dies ver­mag er aber (gerade mit zunehmendem Alter) nur mit leistungssteigernden Substanzen und Metho­den:

»Die lange Geschichte des Gebrauchs leistungssteigernder Produkte spricht dafür, dass das Geld, die Medien oder der Werteverlust nicht die Existenz des Dopings erklären und dass der Rückgriff auf diese Praxis nicht das Zeichen eines moralischen Mangels oder einer gescheiterten Sozialisie­rung ist. Denn es sind immer auch die Besten, die sich dopen. Darum eignet sich eher die Hypothe­se, dass Doping eine Art von ›Hyperkonformität‹ im Hinblick auf die Werte des Sports darstellt: Sich zu dopen bedeutet, die bestmögliche Arbeit als Athlet zu verrichten und voll und ganz seine Identität zu verwirklichen, indem man sein bestes Niveau zu erreichen sucht, um in der Gruppe zu bleiben. Dagegen ist die intendierte Abschreckung der [Doping-] Kontrollen machtlos. Die sportli­che Devianz ist speziell, denn sie rührt eher von einer unbedingten Akzeptanz als von einem Ver­werfen der Normen her. Dies führt die Individuen dazu, im Namen der Anerkennung der Normen ihres Milieus die Regeln zu überschreiten, indem sie Verletzungen riskieren, brutal sind oder sich dopen. Und in einem Bereich, in dem Training und Leistung mit der Einnahme von [erlaubten; CB] Medikamenten verbunden sind, ist der Glaube an die legitime Verbindung zwischen Leistung und Einnahme einer Substanz normal.« (ebd. S. 32)13

Die Bilanz Mignons ist klar: Doping ist eine Form von Devianz, die aber wie viele andere Beispiele (Gefährdung der Gesundheit, Aggressivität u.a.) im Sport nicht als Abfall von Normen, sondern als höchste Konformität ihnen gegenüber zu bewerten ist. Mit Jay Coakley spricht Mignon deshalb von einer »positiven Devianz« (ebd. S. 33). Statt ein moralisches Vergehen oder eine fehlerhafte Soziali­sierung zu indizieren, ist das Dopingverhalten nach Mignon Zeichen einer Überangepasstheit an die Leistungsanforderungen der Gesellschaft.

Konkrete Gründe für dieses Dopingverhalten speziell im Hochleistungssport gibt es laut Mignon viele: Die Maschinenanalogie im Sport drückt die vorherrschende Begeisterung für die technisch-naturwissenschaftlichen Fortschritte aus, die die Sportwelt ständig verfolgt und umzusetzen bemüht ist. Die Rationalisierung (und Technisierung) des Körpers wird im Doping lediglich fortgeführt. Das hohe Maß an Aggressivität aus dem zugespitzten Konkurrenzkampf durch die Professionalisierung sowie die zunehmende Beanspruchung des Körpers durch die Ökonomisierung14 sind weitere Grün­de für das Dopingverhalten im Sport.

Die Hyperkonformität des Sportlers entsteht aber auch zum großen Teil aus der Eigenweltlichkeit des Sports, d.h. aus der inneren Abgeschlossenheit der Sportwelt, die den Sportler von früh an von der Außenwelt abschneidet (Mignon, 2002, S. 33). Wie diese Inklusion zustande kommt, erklärt die Studie von Sebastian Braun (1999) über die Entstehung von Sporteliten in Frankreich. Braun zeigt, wie junge Sportler in Frankreich während ihrer Ausbildung in die staatliche Obhut genommen wer­den (Braun, 1999, S. 194ff.). Die Angebote zur Weiterbildung, die dafür sorgen sollen, dass die Sportler nicht zu sehr vom sportlichen Erfolg abhängig werden und nach ihrer Karriere einen sanf­ten Übergang ins »normale« Leben finden, können aus zeitlichen Gründen kaum wahrgenommen werden. Diese »Rundumbetreuung« der Athleten sorgt zudem dafür, dass ein Großteil der Sportler in Frankreich aus den unteren Gesellschaftsschichten stammt. Sie sehen im Sport den (einzigen) Ausweg aus der finanziellen Not – hier ließe sich ein Vergleich mit der Berufsarmee ziehen (ebd. S. 255).

Die ganze Ausbildung zielt darauf ab, dass der Sportler von Beginn seiner Karriere in eine Eigen­welt inkludiert wird, aus welcher er nur unter Verlust der sozialen Anerkennung und des finanziel­len Wohlstands austreten wird. Diese Situation verschärft sich, wenn man bedenkt, wie viele alltäg­liche Tätigkeiten dem Sportler während seiner Karriere von staatlicher Seite abgenommen werden, die normalerweise die Sozialisierung befördern (wie z.B. Wohnungssuche, sich um einen Ausbil­dungsplatz kümmern). Der Sportler in Frankreich wird systematisch von der Außenwelt abgeschnit­ten, mehr noch als in Deutschland ist die Ausbildung Internaten anvertraut und findet eben nicht in Vereinen statt, die zusätzlich zur Schule besucht werden. Dies führt zu einer Inklusion in die Eigen­welt des Sports, der Sportler kann seine eigene Identität nicht aus einem plural verfassten kulturel­len Angebot konstituieren, sondern bezieht sie nahezu ausschließlich aus dem Sport. Mit diesen Re­sultaten der Studie von Braun lässt sich leicht einsehen, warum die Sportler um jeden Preis die Ga­rantie zum Verbleib in ihrer Welt erbringen wollen und müssen: Die Garantie ist aber Leistung, ein Preis ist Doping. Neben dem Verlust von sozialer Anerkennung und finanziellem Auskommen droht den Sportlern, die zumindest in Frankreich auf Grund ihrer Herkunft aus den unteren Schichten nur ein geringes Potential zur eignen Identitätsbildung mitgebracht haben, der Verlust ihres Selbstver­ständnisses. Patrick Mignon spricht gar von einer Infantilisierung des Sportlers durch die staatliche Bevormundung (Mignon, 2002, S. 33).

Kraft der medialen Dauerpräsenz entsteht möglicherweise sogar eine Art Abhängigkeit von Auf­merksamkeit und Beifall. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang ein psychobiolo­gischer Bericht von Jean-Luc Bret-Dibat aus dem Sammelband von Daniel Guy (2002), der erstaun­liche Parallelen zwischen dem Doping- und dem Suchtverhalten aufweist. Entgegen der oben darge­legten Absicht, das Dopingverhalten vom Suchtverhalten gerade in psychischer, intentionaler Hin­sicht zu unterscheiden, zeigt Bret-Dibat vielmehr, dass einen gedopten Sportler ähnliche Ziele, Ge­fühle und Umstände bewegen wie einen Suchtkranken.

Dabei beginnt die Parallele bereits mit dem Sportler. Dessen Beziehung zum Sport ähnelt dem Ver­halten eines Suchtkranken: Sobald er Sport treibt, stellen sich positive biologische Effekte ein; der Sportler sammelt »ekstatische« Erfahrungen und vollzieht rituelle Praktiken und Gewohnheiten. Doping ist in diesem Fall ein Mittel, länger in der »schönen« Welt zu verweilen – wie beim Sucht­mittel für den Abhängigen. Auch Bret-Dibat kritisiert vor allem die Eigenweltlichkeit des Sports, die das Dopingverhalten als eine Art von Realitätsflucht beschreiben lassen.15 Er zieht dementspre­chend Konsequenzen, die ein Abhängigkeitsverhalten des Sportlers und damit den Griff zum Do­ping beschränken könnte: »Man kann die Konsequenzen für die Sporterziehung nicht übersehen: Zu vermeiden, den Jugendlichen im Sport ›einzusperren‹ oder zumindest zu verhindern, dass seine [sportliche; CB] Betätigung zu früh in seinem Leben zu intensiv und zu systematisch wird sowie zu sehr unter Ausschluss anderer Tätigkeiten stattfindet – dies scheinen mir die angemessenen Verhal­tensweisen zu sein, um dem zu frühen Beginn dieser Abhängigkeit zu begegnen.« (Guy, 2002, S. 159)16

Auch viele Sportler sind von früh an »abhängig« von ihrer Tätigkeit, weil diese Vorschläge nicht befolgt werden. Des Weiteren entwickelt der Text Maßnahmen für Trainer und Lehrer zur Stärkung des Selbstvertrauens (der Identität) der Jugendlichen und zur nachhaltigen Entwicklung einer ge­sunden Identität, die sich nicht (allein) aus der sportlichen Aktivität konstituiert. Die biologische Seite der Untersuchung zeigt zudem, dass einzelne Dopingmittel einen psychischen Effekt ausüben, der für den Betroffenen schädlich sein und geradewegs zur Sucht führen kann.

Überblickt man zusammenfassend die französischen Untersuchungen zur sozialen Seite des Do­pingverhaltens, fällt auf, dass insbesondere zwei Aspekte in ihrer Interaktion ein derartiges Verhal­ten befördern. Zum einen ist es der zunehmende Leistungsdruck in Sport und Gesellschaft, der im Sinne des Freudschen Realitätsprinzips eine Anpassung an die Welt und ihre Bedingungen fordert, die im Dopingverhalten nur eine Reaktion unter anderen hervorruft. Diese Anpassung durch Leis­tung wird zum anderen verstärkt durch ein recht einseitiges, aber umfassendes Identitätsverspre­chen. Die Bindung der Person an die Bedingungen ihrer spezifischen Umwelt gelingt dann am Bes­ten, wenn sie ihre Identität allein aus dieser spezifischen Umwelt bezieht. Der Spitzensportler ist hier ein naheliegendes, aber sicher nicht das einzige Beispiel. Doch wie begegnet man diesem Druck von außen?

2. Die ethischen Dimensionen des Dopingverhaltens

Die Hoffnung auf die Renaissance einer Sportethik wird häufig im Zusammenhang mit der Be­kämpfung von Doping im Sport geäußert. Sie reagiert insbesondere auf die Sachlage, dass die Be­kämpfung von Doping (inzwischen) nahezu ausschließlich Angelegenheit von rechtlichen Regle­mentierungen und politischen Entscheidungen ist. Diese »moralferne« Beschäftigung wird häufig als ein Defizit angesehen. Paul Irlinger verbucht in der französischen Öffentlichkeit seit den 90er Jahren eine zunehmende Verlagerung der Doping-Diskussion auf das Gesundheitsargument, wohin­ter eine Gesundheitspolitik steht, die vor allem aus ökonomischen Interessen handelt (Laure, 2000, S. 44ff.). Stattdessen fordert Irlinger eine neue Sportethik. Doch welche Normen gibt es für diese Ethik, die gegen das Doping sprächen?

Wir haben im vorherigen Kapitel gesehen, dass der gedopte Sportler streng genommen ein hohes Maß an Konformität gegenüber den Normen seiner Sportwelt aufweist. Isabelle Queval unterschei­det in ihrem Buch Le corps aujourd’hui (2008) drei fundamentale Faktoren, die zur Konformität ge­genüber Normen führen (Queval, 2008, S. 95): Angst vor Sanktionen oder dem sozialen Ausschluss, Verinnerlichung der Normen sowie Identifikation mit einer Gruppe, einem Netzwerk, einer Ge­meinschaft.

Fragt man sich nun rein formal, inwiefern Doping im Sport ein Vergehen an diesen drei Aspekten darstellen könnte, fällt die Bilanz eher negativ aus. Bereits der erste Punkt wäre im Falle des Do­pings widersprüchlich. Während die Angst vor Sanktionen noch einen Verzicht auf Doping nahe le­gen könnte, droht der soziale Ausschluss eher – wie gezeigt – bei nicht erbrachter Leistung. Unter diesen Umständen wäre Doping sogar geboten. Mehr noch: Wenn man bedenkt, dass die Sanktionen von der Sportwelt weitaus stärker ins Gewicht fallen beim Versagen des Sportlers (keine Leistung, keine Zugehörigkeit), dann wäre das Dopingverhalten sogar eine Art Metanorm, die noch vor Be­folgung konkreter anderer Normen vor sozialem Ausschluss bewahrt – gleichsam die Möglichkeits­be­din­gung, um überhaupt an den Normen der Sportwelt teilzuhaben.

Auch für den dritten Punkt gibt es erstaunliche Gründe, weswegen die Normen den Kampf gegen das Doping eher vereiteln als vorantreiben. Im Kapitel zur »Soziologie der Ethik am Beispiel des Dopings« zeigt Pascal Duret (2004), dass viele Normen im Sport, die im Zusammenhang mit einer Gruppenidentität stehen, dazu führen, die Dopingproblematik zu verschleiern. Im Radsport fallen darunter das totale Engagement oder die totale Hingabe im Rennen, die familienähnliche Loyalität untereinander, die Abwehr der Transparenz (Schweigen zum Ausschluss der Öffentlichkeit aus den Sportinterna), das Männlichkeitsgehabe und der Respekt gegenüber dem eigenen Rennstall (Duret, 2004, S. 165ff.).

Wie könnte man angesichts dieser Situation auf eine Verinnerlichung der Normen setzen, die zur Dopingbekämpfung beitragen? Duret beschreibt die Mechanismen, die bei einem Doping-Skandal oder einer Doping-Affäre einsetzen. Inzwischen weiß man anhand reichlicher Beispiele, dass Sport­ler, Trainer und sonstige Verantwortliche, bis hin zu den Journalisten, eigene Verhaltensmuster ent­wickelt haben, die sich immer wieder abspielen. Diese Fälle dienen laut Duret weniger der Bekämp­fung von Doping im Sport als vielmehr einer trügerischen Gewissensberuhigung, so als käme man durch jeden positiven Test dem sauberen Sport näher. Dabei handelt es sich um eine alte Strategie der Gesellschaft durch Benennung und Verfolgung von vermeintlich Schuldigen (meist Minderhei­ten) sich selbst zu reinigen oder auch: von sich selbst abzulenken.

Dieses Schema des Sündenbocks, das wir schon früher erwähnt haben, krankt Duret zufolge an der Einseitigkeit eines binären Moralismus, der die Landschaft in schwarz und weiß einzuteilen ver­sucht (ebd. S. 167ff.). Dagegen betont Duret, dass wie in der Gesellschaft als ganzer auch im Sport ein Pluralismus von (teilweise sich widersprechenden) Normen existiert, der eine neue Konstrukti­on der Sportler-Identität auf den Plan ruft: »Es gibt eine Vielzahl an moralischen Prinzipien, die das Verhalten des Sportlers rechtfertigen können. Die Sportler-Identität ist weniger gegeben als aufge­geben. Die Dopingaffären bieten ein gutes Terrain, um diese Entwicklung ausfindig zu machen.« (ebd. S. 135)17

Doch an welchen Werten und Normen hätte sich diese neue Identität zu orientieren? Wir haben oben bereits eine grundlegende Strategie kennengelernt, um den binären Moralismus beim Sportdo­ping zu vermeiden. Gemeint ist die Ausweitung der Thematisierung des Dopings auf die gesamte Gesellschaft, um den Sport – salopp gesagt – aus der Schusslinie des Moralismus zu nehmen. Auch in ethischer Hinsicht scheint der Begriff der conduite dopante eine bestimmte Lösung vorzuschla­gen, nämlich den Übergang von der Sportethik zur Dopingethik.

Dies ist der Titel eines kleinen Handbuchs von Patrick Laure, der die aktive Verteufelung des Do­pings durch die sportliche Bewegung (»active diabolisation par le mouvement sportif«) auf dem Wege einer Ethik überwinden will (Laure, 2002, S. 7). Dabei steht der Sportler nicht unmittelbar im Mittelpunkt. »Die hier vorgeschlagene Überlegung interessiert sich für die Person und ihre Identität, die in der Wettbewerbsgesellschaft der Jagd nach Leistung mit allen Mitteln, besonders mit Sub­stanzen, sowie dem Mythos des vollkommenen Individuums, das nach der Möglichkeit von Produk­ten gestaltet wird, ausgesetzt sind.« (ebd. S. 8)18

Patrick Laure schildert die Faktoren, welche die Identität einer Person beeinflussen oder konstituie­ren. Er sieht im Dopingverhalten nicht grundsätzlich einen Verstoß gegen Normen, vielmehr ist es als Vermeidung von Misserfolg in der Gesellschaft in vielen Fällen unumgänglich. Andere Fälle hingegen fordern das aktive Eingreifen zur Eindämmung von Dopingverhalten, insbesondere wenn zentrale Werte und Normen unserer Gesellschaft beeinträchtigt werden. Laure nennt hierbei neben der Gesundheit das persönliche Recht auf Anerkennung, auf Würde, Freiheit, Selbstbestimmung und Menschlichkeit. Sobald diese Werte in Gefahr sind, werden auch repressive Maßnahmen von außen nötig; weitaus erstrebenswerter ist jedoch die individuelle und soziale Akzeptanz der eben genannten Werte (ebd. S. 111).

Anhand der Anerkennung der Andersheit zeigt Laure, dass Dopingverhalten schädlich sein könnte. Denn die in der Gesellschaft geforderten Leistungen und die daran gebundene meritokratische Hier­archie bedeuten eine Art von Negation der Unterschiede (»une forme de négation des différences«; ebd. S. 38). Dieses Argument ist von großer Bedeutung, da es darauf aufmerksam macht, dass Do­pingmittel dazu dienen, eine von außen vorgegebene Leistung ohne Rücksicht auf individuelle Ei­genarten des Leistungsträgers zu erreichen. Diese Gleichmacherei geschieht immer dann, wenn Leistung quantifizierbar zu sein hat. Leistung ist dann nicht mehr etwas, das eine Person mit ihren je individuellen Fähigkeiten erbringt, sondern ein von außen vorgegebener Maßstab, der von den in­dividuellen Unterschieden abstrahiert. Dopingverhalten folgt dieser Gleichheitslogik, die zu Ange­passtheit und Uniformierung der Leistung führt.

Zu übermächtige Repression und Prohibition verbieten sich bei einer Dopingethik, welche die Selbstbestimmung der Person in den Mittelpunkt stellt. Vielmehr müssen dem Einzelnen Informa­tionen und Techniken zur Verfügung gestellt werden, die einen »gesunden« Umgang mit Doping­mitteln ermöglichen. Die Fähigkeit, autonome Entscheidungen zu treffen, scheint indes in der heuti­gen Zeit zumindest stark eingeschränkt zu sein. Die permanente Infantilisierung des Bürgers durch neue Verbote und Sanktionen ist hier eindeutig kontraproduktiv. So endet auch Laures Buch über Doping­ethik eher pessimistisch.

Auch Michel Hautefeuille weist in seiner Studie den Ruf nach Prohibition zurück. Dafür gibt er mehrere Gründe an: die Kriminalisierung breiter Gesellschaftsschichten, die belegte Unwirksamkeit der Prohibition sowie die Infantilisierung der Bürger (Hautefeuille, 2009, S. 199ff.). Stattdessen plä­diert er für eine ausreichende Informierung über Gefahren und Versprechen der unterschiedlichen Mittel, damit die betroffenen Personen für sich zu entscheiden vermögen, welchen Preis sie zu zah­len bereit sind. Vor allem bei Drogen oder Dopingmitteln mit nicht vorhandenen oder geringen Ne­benwirkungen (aussagekräftige Studien darüber sind wegen verbreiteter Repressionsmaßnahmen kaum bekannt) ist ein Verbot für Hautefeuille nicht haltbar. Vielmehr wird es in Zukunft darum ge­hen, dass sich der Einzelne über Ziele und Absichten vor der Einnahme bewusst wird und selbst ein (obzwar schwierig zu erreichendes und zu haltendes) Gleichgewicht findet.

Hautefeuille präferiert letztlich eine umfassende Legalisierung von Doping und Drogen, obwohl er die Gefahr sieht, dass Leistungssteigerung nicht nur aus autonomen Gründen angestrebt wird. Der zunehmende Druck zur Leistungssteigerung im Beruf ist ein Beispiel dafür, wie heteronome Gründe den Einzelnen zur Einnahme von Mitteln treiben. Gegen diese Faktoren muss laut Hautefeuille vor­gegangen werden. Dagegen scheinen Aspekte wie drogeninduzierter Erfahrungsgewinn (Bewusst­seinserweiterung) und die autonom gewählte »künstliche« Leistungssteigerung für den Menschen nötig zu sein, um Selbstreflexion zu betreiben, Innovationen zu erschaffen und so die Kultur voran­zutreiben.

Doch Legalisierung von Doping und Drogen befreit nicht von Präventionsmaßnahmen – im Gegen­teil: »Auch wenn dies paradox klingen mag: Jede Legalisierung kann nur bestehen durch die Stär­kung der Prävention. Diese Prävention würde unter anderem lehren, dass die beste Art und Weise, eine x-beliebige Sache zu schätzen, darin besteht, sie nicht zu missbrauchen, sich ihrer zu bedienen zu verstehen und seine Grenzen zu kennen. Der Staat hätte die Zeit zur Prävention, insofern das Verschwinden jeder Form von Prohibition ihm wirklich eine Menge an Zeit und an finanziellen Mitteln übrig ließe.« (ebd. S. 230)19

Eine Dopingethik, wie sie von Patrick Laure entworfen, von Hautefeuille in einigen Aspekten er­gänzt wurde, dreht sich vor allem um drei Wertvorstellungen unterschiedlichster Provenienz. Man könnte sie in eine antike, eine moderne und eine postmoderne Vorstellung aufteilen. Im letzten Zitat findet sich der Verweis darauf, dass jede Person ihre eigenen Grenzen kennen und einen maßvollen Umgang mit Dopingmitteln pflegen sollte. Im Rückblick auf die Studie von Isabelle Queval (2004) bedeutet dies eine Abkehr von der öffentlichen Überbietungslogik, die eine unendliche graduelle (d.h. quantifizierbare) Perfektibilität des Menschen verfolgt. Statt dessen wäre eine Form von Leis­tung anzustreben, die nicht von außen vorgegeben und damit objektiv-allgemein ist, sondern eine an der eigenen Person und ihrer Eigenart gemessenen Leistung, die gerade dadurch ihren Wert erhält, dass sie von der jeweiligen Person selbst vollzogen wird. Leistung ist nicht ein Produkt, das man herstellt, sondern eine Tätigkeit der Person. Bereits bei einer derartigen Auffassung wird der vorschnelle Rückgriff auf Dopingmittel stark eingeschränkt. Dieses Argument verbindet die moderne Konzeption personaler Selbstbestimmung oder Autonomie mit der postmodernen Emphase der Differenz.

Patrick Laure gelingt es in seinem Buch zur Doping-Ethik nur sehr rudimentär, eine derartige Ethik zu entwerfen. Weitaus wichtiger ist, dass er auf eine sinnvolle Möglichkeit hinweist, wie die Do­ping-Thematik in einem größeren, nämlich gesamtgesellschaftlichen Rahmen in ethischer Hinsicht zu behandeln ist. Im Einklang mit der Perspektive der conduites dopantes muss auch die entspre­chende Ethik aus den engen Schranken einer Sportethik ausbrechen und die menschliche Person als solche ansprechen und in die Verantwortung nehmen. Des Weiteren müssen die gesellschaftlichen Strukturen danach hinterfragt werden, ob sie die autonome Entscheidung der Person auch in Fragen des Dopingverhaltens ermöglichen oder eher behindern, vielleicht sogar vereiteln. Wie eine derarti­ge Ethik im Einzelnen auszusehen hätte und wie sie im Kontext einer umfassenden Ethik zu veror­ten wäre, bleibt eine dringende Frage an die Philosophie.

3. Vom Doping zum Enhancement? Kritischer Ausblick

Ein Großteil der französischen Forschung geht davon aus, dass es eine in unserer Kultur und Ge­sellschaft verwurzelte Neigung zum Dopingverhalten gibt (»penchant pour les conduites dopantes«; Gasparini, 2004, S. 62), die heutzutage nur beschränkt, nämlich im Sport, kritisch hinterfragt wird. Durch die Ausweitung des Themas stehen der Forschung zahlreiche wissenschaftliche Instrumente, Methoden und Kenntnisse zur Verfügung, auf die gezielt, d.h. speziell im Hinblick auf das Doping­verhalten, zurückgegriffen werden kann; dazu zählen die soziologische Analyse der gesellschaftli­chen Strukturen, die das Verhalten bedingen; die psychologische Analyse der Motivationslage, der Vorstellungen und Intentionen der »dopenden« Subjekte sowie die philosophische Konstruktion möglicher Normen, die das Dopingverhalten regeln könnten.

Darauf dass die wissenschaftlichen Mittel, die sich auf die ganze Gesellschaft als Gegenstand bezie­hen, durch den Begriff des Dopingverhaltens auf den Sport beziehen lassen, hat Patrick Laure – wie wir gesehen haben – hingewiesen. Doch auch die entgegengesetzte Richtung ist in diesem Fall denkbar und wurde in diesem Beitrag an einigen Stellen angedeutet: Viele Forschungsergebnisse über Sportdoping ließen sich bei aller wissenschaftlicher Vorsicht auch auf das gesamtgesellschaftli­che Dopingverhalten beziehen, das heutzutage gerne unter dem Stichwort des Enhancements abge­handelt wird. Bei den folgenden Themenbereichen scheint mir die Übertragung einiger Aspekte der Sportdoping-Diskussion ertragreich zu sein:

  • ethischer Aspekt: Welchen heute geltenden moralischen Werten oder Normen widerspricht, welche befördert das Dopingverhalten (Enhancement)? Wie ist die Tendenz des zunehmen­den Enhancement-Verhaltens aus ethischer Sicht zu beurteilen?

  • sozialer Aspekt: Gibt es Menschengruppen, die besonders vom Enhancement betroffen sind? Was sind die soziologischen und psychologischen Faktoren ihres Verhaltens? Welche Ent­wicklungen erwartet eine Gesellschaft, die zunehmend vom Dopingverhalten bestimmt ist?

  • rechtlicher (politischer) Aspekt: Folgt aus den ethischen und soziologischen bzw. psycholo­gischen Analysen die Notwendigkeit, rechtliche Maßnahmen zur zukünftigen Regelung des Enhancements zu ergreifen? Welche Rolle sollte die Politik spielen?

Die französische Perspektive der conduites dopantes stellt sicherlich eine Reaktion auf die Be­schränkungen des Dopingbegriffs dar. Dieser ist nahezu ausschließlich von juristischer und/oder po­litischer Bedeutung. Die Argumentation gegen das Doping wie auch die konkreten Maßnahmen be­ruhen häufig auf ökonomischen Interessen wie im Falle des Gesundheitsarguments deutlich wurde (vgl. P. Irlinger in Laure, 2000). Alle diese Aspekte teilen einen Blick von außen auf die betroffenen Personen; es interessiert vielmehr die Etablierung geeigneter (rechtlicher, ökonomischer und politi­scher) Strukturen, die in den meisten Fällen vom Doping bedroht werden.

Statt dessen fokussiert der Begriff des Dopingverhaltens den pädagogischen und ethischen Zugang, der die einzelne Person und ihre Perspektive der Freiheit und Selbstbestimmung gegen die Gefahr der Heteronomie durch den sozialen Druck in den Mittelpunkt stellt. Bereits den Kindern und Ju­gendlichen muss die freie Entfaltung ihrer Fähigkeiten, die nicht ausschließlich aus der Sicht des sozialen Nutzenkalküls bewertet und gefördert werden, garantiert werden.20 Die axiologische Aus­richtung dieser entsprechenden Pädagogik verlangt ihrerseits ihre Grundlegung in der Ethik des Do­pingverhaltens, wie Hébrard im Allgemeinen dartut (Treutlein & Pigeassou, 1997).

Der Tenor dieser Tendenz besteht darin, dass das Dopingverhalten nicht von außen, durch Gesetze oder politische Maßnahmen, beschränkt oder geregelt werden soll. Vielmehr müssen sich die Men­schen selbst der neuen Situation stellen und anhand eigener, autonomer Entscheidungen ihr Doping­verhalten regulieren (Laure, 2002; Hautefeuille, 2009). Dies funktioniert freilich nur, wenn auch die äußeren Bedingungen geschaffen werden, z.B. durch eine Aufklärungs- und Informierungskampa­gne über Vor- und Nachteile von Dopingmitteln, die bereits bei Kindern und Jugendlichen ansetzen muss.

Die um sich greifende Inflation des Dopingverhaltens in der Gesellschaft macht – auch dies ist eine Forderung der Perspektive – die Konzeption neuer ethischer Maßstäbe und pädagogischer Mittel notwendig, die auf Grund ihrer Reichweite ebenso die Wettkampfsportler umfasst. Maßnahmen wie Stärkung der eigenen Identität, Streuung bzw. Pluralisierung der Identitätskonstituentien, Erziehung zum richtigen Umgang mit dem eigenen Körper (Körperbilder, Gesundheit) u.a. dienen dann auch dem Jugendlichen, der eine Karriere als Sportler eingehen will und wird.

Aus der Perspektive der conduites dopantes fällt zudem auf, dass eine das Dopingverhalten regeln­de Ethik auch bei ihrer Anwendung auf den Sport nicht aus Normen des Sports selbst folgen kann, sondern bereits beim Menschen und der Gesellschaft als ganzer ansetzen muss. Aus philosophi­schen Untersuchungen muss im Verbund mit der Soziologie und Anthropologie der richtige Um­gang mit dem Dopingverhalten projiziert werden, den auch der Sport – als gesellschaftliche Veran­staltung – zu befolgen hat.

Es gibt indes auch Anlass zu einer Kritik am Begriff der conduite dopante, der nicht verschwiegen werden soll und der weiterreicht als bis zur noch ausstehenden Aufgabe, eine konkrete Dopingethik zu entwickeln. Während die Forschung den Begriff meistens in Richtung seiner empirischen An­wendbarkeit gebraucht, lässt sich ebenso die Frage aufwerfen, ob seine Definition eine begrifflich scharfe Abgrenzung eines einheitlichen Phänomens leistet. So heißt es, dass das Dopingverhalten unter anderem im Gebrauch (Konsum) eines leistungssteigernden Produktes besteht. Welche Ge­genstände fallen aber unter diese Produkte? Im weitesten Sinne fällt möglicherweise das Autofahren unter Dopingverhalten. Denn auch hier verbrauche ich ein Produkt (Reifen, Motor, Benzin), um schneller an einen Ort zu kommen. Doch intuitiv würde man das Autofahren nicht zum Dopingver­halten rechnen. Vielleicht wäre es deutlicher von der Vereinleibung eines Produktes zu reden.

Ähnliches betrifft die Absicht der Leistungssteigerung. Auch hier ist es in der Alltagssituation frag­lich, in welchen Fällen diese Charakterisierung zutrifft oder nicht. Denn die alltägliche Motivations­lage ist äußerst komplex bis konfus. Man könnte hinter nahezu jeder Einverleibung eines Produktes die Absicht der Leistungssteigerung vermuten; ebenso gibt es andere Motive, die beim klassischen Dopingverhalten, immer auch mitspielen. Das Dichterbeispiel haben wir genannt.

Diese Beispiele werfen neben dem Verlangen nach einer ›begriffsschärferen‹ Definition vor allem die Frage auf, inwiefern es überhaupt sinnvoll ist, von einem einheitlichen Phänomen namens Do­pingverhalten auszugehen. Eine Antwort auf diese Frage haben einige der eben dargestellten Unter­suchungen zum Teil bereits zu liefern versucht, indem sie zentrale Faktoren im Kontext des Doping­verhaltens wie den Leistungsbegriff, die Anpassung an die Realität, die Selbstüberbietung usw. ein­geführt haben. Doch auch in diesen Bestimmungen werden häufig Begrifflichkeiten benutzt, die noch auf ihre Rechtmäßigkeit hinterfragt werden müssen. So war für viele Untersuchungen die Un­terscheidung von Innen und Außen zentral: Während Drogen die Flucht vor der Außenwelt ins Inne­re der Traumwelt gewährleisten, steht Dopingverhalten für eine Anpassung an die Außenwelt und somit die Aufgabe einer eigenen (inneren) Identität. Doch inwiefern ist diese Unterscheidung überhaupt sinnvoll? Sind nicht alle Identitäten sozial konstituiert? Verbirgt sich hinter dem Beharren auf dieser Unterscheidung eventuell die alte (romantische) Kritik an der Technik zugunsten einer unberührten Natürlichkeit?

Diese Aneinanderreihung ließe sich ad infinitum forttreiben. Es wäre aber schade um das schöne Papier. Nur eines sollte deutlich werden: Neben der empirischen Untersuchung des Dopingverhal­tens – sei es im naturwissenschaftlichen oder sozialwissenschaftlichen Sinne – muss ergänzend eine philosophisch-phänomenologische sowie begriffliche Eingrenzung des Phänomens erbracht werden. Da dieses Unternehmen auch die Grundlagen der Normen einer Dopingethik zu analysieren hätte, schließt sich der Kreis der noch ausstehenden Aufgaben.

1 Für den Begriff der conduite dopante schlug der Heidelberger Sportpädagoge Gerhard Treutlein die Übersetzung »Dopingmentalität« vor (Singler & Treutlein, 2000, S. 322), vermutlich weil der Begriff des Verhaltens zu sehr durch die behavioristische Deutung auf »äußere« Aspekte des Verhaltens reduziert ist. Ich ziehe im Folgenden den­noch die Übersetzung »Dopingverhalten« vor; erstens um die äußere, »beobachtbare« Seite dieses Phänomens zu betonen: Dopingverhalten ist eine Tätigkeit und keine bloße Einstellung. Zweitens glaube ich, dass im deutschen Ausdruck des Sich-Verhaltens ebenso der Bezug auf die innere Einstellung gegeben ist.

2 »Une conduite dopante se définit par la consommation d'un produit pour affronter ou pour surmonter un obstacle réel ou ressenti par l'usager ou par son entourage dans un but de performance.«

3 In diesem Sinne praktiziert auch der Schriftsteller Robert Menasse ein Dopingverhalten, wenn er zur angeblichen Leistungssteigerung während des Schreibens Unmengen an Petersilie nascht. Diesen Hinweis verdanke ich dem Be­richt von Ulrich Schnabel »Im Rausch der Petersilie« in der ZEIT Nr. 43 (15.10.2009).

4 Der Code ist einzusehen unter: www.wada-ama.org/rte­content/document/Code_deutsch.pdf.

5 Das Enhancementverhalten wäre ebenso wie Doping als eine Unterform des Dopingverhaltens zu begreifen.

6 Die Thematisierung des Verhältnisses von Sport und Gesellschaft setzte explizit erst mit dem Aufkommen der Sportsoziologie im letzten Jahrhundert ein. Über deren Entstehung im französischen Raum informiert Pigeassou (Treutlein & Pigeassou, 1997).

7 »Le sport est ainsi victime du mythe de sa pureté. Les champions dopés sont des boucs émissaires, accusés d'une tri­cherie spécifique dans un monde prétendument protégé, quand partout ailleurs, hors l'étau de ces idéaux projetés, existent la tricherie, le ›piston‹, la corruption, le dopage.«

8 »De nos jours, être en bonne santé signifie avoir une constance dans la performance que même les robots de science-fiction sont incapables d'atteindre: constance de la performance physique, persistance de la beauté, capacité à réfléchir et à apprendre intacte. Comme si l'homme avait réussi à arrêter le temps.«

9 Wie sehr der Sport mit der Aufklärung zusammenhängt, lässt sich auch in diesem Fall durch die bedeutende Schrift eines französischen Aufklärers belegen: L’homme machine (1747) von Julien Offray de la Mettrie (2009).

10 Gesundheit kann einmal als eine praktische Lebensweise, das andere Mal als ein herzustellender Zustand – mit der Unterscheidung von Aristoteles: als Praxis oder als Poiesis begriffen werden (Aristoteles, 1985, S. 1). Worin genau dieser Unterschied besteht und welche Auswirkungen die unterschiedlichen Begriffe haben, erkläre ich an anderer Stelle (Binkelmann, 2010).

11 »Lorsque le sport devient moyen d'existence et/ou de promotion sociale, le principe de désintéressement perd de son sens.«

12 Man könnte hier geneigt sein einzuwenden, dass der Sport immer schon im Interesse der Politik stand, wie beispiels­weise die antiken olympischen Wettkämpfe. Das ist sicherlich richtig. Die heutige Politisierung zeigt sich hingegen darin, dass der Sport zu einem Spezialressort der Politik geworden ist, um das sich ein »Sportminister« kümmert.

13 »La longue histoire de l’utilisation de produits pour améliorer la performance tend à démontrer que l’argent, les mé­dias ou la décadence des valeurs n’expliquent pas l’existence du dopage et que le recours à cette pratique n’est pas le signe d’une défience morale ou d’une socialisation défaillante, car ce sont aussi les meilleurs qui se dopent. L’hypo­thèse est donc celle du dopage comme une forme d’hyper-conformité aux valeurs du sport: se doper c’est faire le mieux possible son travail d’athlète et réaliser pleinement son identité en cherchant à atteindre son meilleur niveau pour rester dans le groupe. Ce qui dépasse tous les pouvoirs de dissuasion des contrôles. La déviance sportive est particulière car elle provient d’une acceptation inconditionnée des normes plutôt que d’un rejet des normes qui amè­ne les individus à transgresser des règles comme risquer la blessure, être brutal ou se doper au nom du respect des normes du milieu. Et dans un cadre où l’entraînement et la performance sont médicalisés, la croyance dans la relati­on légitime entre performance et ingestion d’une substance est normale.«

14 Man denke hierbei an die Zunahme an Spielen, die ein Profisportler inzwischen im Verlauf eines Jahres zu absolvie­ren hat, insbesondere um das mediale Interesse hoch zu halten und somit die Einnahmen für alle Beteiligte zu maxi­mieren. Dass darunter die Physis leidet, ist offensichtlich; diese Praxis ist auf Dauer nicht ohne Medikamente mög­lich.

15 Gemeint ist die Flucht vor der dem Sport äußerlichen Realität der Gesellschaft. Darin liegt kein Widerspruch zur vorher erörterten These, dass Doping eine Anpassung an die Realität, nämlich an diejenige, die die Leistung ver­langt, befördere.

16 »Les conséquences sur l’éducation à la pratique sportive ne sont pas négligeables: éviter d’enfermer le jeune dans le sport ou du moins empêcher de rendre sa pratique trop intensive, systématique et exclusive d’autres activités trop tôt dans sa vie me semblent être des attitudes propres à contrer l’instauration trop précoce de cette dépendance.«

17 »Il existe une pluralité de principes moraux que peuvent servir à justifier la conduite du sportif. L’identité sportive est moins donnée qu’à construire. Les affaires de dopage fournissent un bon terrain pour repérer cette évolution.«

18 »La réflexion proposée […] s'intéressa à la personne et à son identité, confrontées, dans une société concurrentielle, à la recherche de la performance par tous les moyens, en particulier par des substances, et au mythe de l'individu parfait, faconné à loisirs des produits.«

19 »Même si cela peut paraître paradoxal, toute législation ne peut exister que par le renforcement de la prévention. Cette prévention apprendrait entre autre que la meilleure façon d’apprécier une chose quelle qu’elle soit est de ne pas en abuser, de savoir s’en servir et de connaître ses limites. Les pouvoir publics auront tout le loisir de le faire tant il est vrai que la disparition de toute prohibition leur laissera pas mal de temps et de crédits disponibles.«

20 Zum Thema »Doping und Jugendliche« im Hinblick auf Pädagogik vgl. Laure 2006a; 2006b). Zum Unterschied in der deutschen und französischen Pädagogik vgl. Beillerot & Wulf, 2003. Eine interessante philosophische Geschich­te der Kindheit aus französischer Sicht findet sich bei Renaut (2002).