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Von Epo zu Kant und zurück: Translating Doping – Doping übersetzen und die Philosophie

Von Epo zu Kant und zurück: Translating Doping – Doping übersetzen und die Philosophie

Philosophen sind häufig »Universaldilettanten«.1 Weil sie einen Sinn für das große Ganze in sich verspüren, drängt es sie, sich über zahllose Gebiete zu verbreiten. Dabei sind sie strenggenommen keine Fachleute für dies und das, sondern eher Spezialisten für das Allgemeine. Ihrer Entstehung nach und entsprechend dieser Ausrichtung ist die Philosophie transdisziplinär. Und da sie streng­genommen weder eine Disziplin ist noch einen eindeutigen Gegenstandsbereich hat, ist sie zugleich Übersetzungswissenschaft zwischen den Disziplinen. Dieser Ausrichtung nach ist die Philosophie interdisziplinär. Das Dilettantentum verpflichtet die Philosophie zur Bescheidenheit gegenüber den disziplinär verfassten Wissenschaften; zugleich ist ihr die Transdisziplinarität Programm. Ihre Aufgabe ist stets auch die Transformation.

Doping ist ein Problem, dass zu Recht das Interesse der Philosophie weckt. Denn beim Doping kommen zahlreiche Probleme zusammen und verdichten sich. Doping ist wie ein Kristallisationspunkt, an dem sich verschiedenste Interessen- und Problemlagen treffen. Gleichzeitig ist die große Bühne des Sports ein Feld, das der Dramatisierung und Inszenierung Vorschub leistet. Doping trifft deshalb den Nerv. Dies ist nicht der Nerv des Sports allein, sondern der neuralgische Punkt eines ganzen Geflechts unterschiedlicher Interessen. Die Philosophie widmet sich den dabei entstehenden Problemen, gerade weil sie nicht nur und schon gar nicht ausschließlich Probleme des Sports sind.

Heute möchte ich die Gelegenheit nutzen, um ein paar Reflexionen zum Dopingproblem vorzutragen. Zum Ausgangspunkt nehme ich eine Studie, die Prof. Dr. Carsten Lundby, ein dänischer Mediziner aus Kopenhagen, im Jahr 2008 veröffentlicht hat.2 Ich wähle diesen Weg, um konkret zu zeigen, welche systematische Rolle die Philosophie bei einem so speziellen Problem, wie es das Doping zunächst zu sein scheint, spielen kann. Damit will ich in aller Vorsicht demonstrieren, was ein philosophisches Projekt, das unter dem Titel »Translating Doping – Doping übersetzen« angesiedelt ist, zu leisten beabsichtigt.

Die Studie von Dr. Lundby geht von der These aus, dass es gravierende Probleme mit den gängigen Anti-Doping-Tests gibt, insbesondere dann, wenn die Einnahme des rekombinanten menschlichen Erythropoietin (kurz: Epo) im Urin nachgewiesen werden soll. Tatsächlich gibt es seit Jahren Kritik an den Nachweismethoden und den Verfahren der Anti-Doping-Labore.3 Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass zahlreiche Athleten Epo zu Dopingzwecken missbraucht haben und weiterhin missbrauchen, aber aufgrund der Unzuverlässigkeit der Tests unentdeckt bleiben. Epo erhöht die Fähigkeit des Bluts, Sauerstoff zu transportieren, und ist daher für verschiedene Sportarten von großem Interesse. Das Ziel sei es, so die Studie, die Genauigkeit der Tests zu untersuchen. Deshalb beabsichtigte die Studie, zwei verschiedene WADA-akkreditierte Labors mit ausschließlich aus diesem Grund erzeugten Proben zu beschicken.4 Dr. Lundby hat zu diesem Zweck acht Versuchspersonen mit Epo behandelt und während sieben Wochen in drei Phasen Proben genommen. Als Ergebnis hält die Studie fest: Ein Labor, es wird in der Studie mit A bezeichnet, entdeckte fünf von 24 Proben als verdächtig oder positiv; ein weiteres Labor, welches die Studie mit B bezeichnet, habe keine der 24 Proben als verdächtig oder positiv erkannt.5 Die Fach- und Medienwelt reagierte mit Erstaunen auf die wissenschaftlich festgestellte geringe Entdeckungswahrscheinlichkeit von Epo-Dopingsün­dern.

Ich möchte in folgenden Schritten verfahren: zunächst (1) will ich kurz erklären, was man allgemein unter Philosophie verstehen kann und wie sie zum Problem des Dopings steht. Dann (2) werde ich holzschnittartig auf die Frage eingehen, ob sich überhaupt klar festlegen lässt, was man unter Doping zu verstehen hat. (3) Um den Eindruck zu widerlegen, Doping eigne sich einzig und allein als Thema ethischer Reflexionen, werde ich danach auf die Problematik der Grenzwerte eingehen, die für alle standardisierten Testverfahren grundlegend ist und in Bereiche der Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie führt. (4) Die Studie von Dr. Lundby wirft die Frage nach der ethischen Begründung für Versuche an Menschen auf, die nicht nur in diesem Fall, sondern auch bei der Entwicklung von Pharmaka und deren Risikoabschätzung generell auftreten. Dann (5) will ich kurz hinterfragen, was die in der Diskussion um das Doping vorherrschende Auffassung einer forcierten Kontrolle der Athleten im gesellschaftlichen Rahmen bedeutet. Schließlich (6) möchte ich einen kritisch-reflexiven Blick auf die Anti-Doping-Medizin werfen, die doch im Ziel einig sein sollte, aber doch erschreckend uneinig ist. Dass dies vor allem ein Problem der Interpretation (vermeintlich) harter Fakten und Messwerte ist, bringt die Philosophie ins Spiel. Mit einem Blick (7) auf die Rolle der Medien und damit auch auf uns als Sportkonsumenten möchte ich meinen Beitrag schließen.

1 Was will die Philosophie?

Die Philosophie versucht, ganz allgemein ausgedrückt, ein begründetes und kohärentes Welt- und Selbstverständnis zu entwickeln. Die Philosophie ist eine Orientierungswissenschaft: Sie prüft und wertet Argumente und Theorien. Sie hinterfragt bestehende oder traditionelle Auffassungen durch kritische Reflexion. Kritisch heißt dabei nicht »negativ« oder »abwertend«, sondern »unterscheidend«. Sie ist daher zu Recht eine analytische Disziplin, welche die Aufgabe hat, Begriffe, Definitionen und Theorien zu prüfen. Die kritische Reflexion der Philosophie ist dabei zugleich ein begründendes Rechenschaftgeben. Sie formuliert Sinnangebote, durch die sich die komplizierten Sachverhalte unserer Welt und unseres Selbstverständnisses nach Aspekten oder Perspektiven unterscheiden lassen. Sie ist damit zugleich eine Übersetzungswissenschaft. Übersetzen heißt allerdings mehr, als nur einen Text von einer Sprache in eine andere zu übertragen.6 Die unterscheidenden Hinblicknahmen auf Welt und Selbst erzeugen nämlich bei der Übersetzung ganz neue Kontexte, neue Sprachen, um im Bild zu bleiben. »Translating Doping« wird durch diese transdisziplinäre Verfahrensweise der Philosophie die Fähigkeit der Geisteswissenschaften nutzen, Übersetzungen und Transformationen zu leisten. Vorrangig geht es darum, das Komplizierte verständlich zu machen: Doping ist ein unübersichtliches Feld, das in verschiedenen Disziplinen fest verankert ist. Es geht aber auch darum, allzu Selbstverständliches zu hinterfragen, um das Komplizierte in seiner Komplexität darzustellen und zu seinem Recht zu verhelfen: Schließlich gibt es nicht für jedes Problem eine einfache Lösung.

Und natürlich ist die Philosophie kein bloßes Spiel, keine Räsonnement, das die Welt nur verschieden beschreibt: ›Es kommt darauf an, sie zu verändern.’ Nach meinem Dafürhalten gibt es keine unengagierte Philosophie, die den Namen ›Philosophie’ verdient. Während es in vielen Disziplinen ein Theorie-Praxis-Problem gibt, ist die Unabtrennbarkeit von Theorie und Praxis für die Philosophie nachgerade konstitutiv. Philosophie ist immer auch Lebenspraxis, selbst dann, wenn sie sich in ganz theoretische Probleme verwickelt sieht. Dieses Zugleich- und Zusammen-Sein von Theorie und Praxis ist auch für das Forschungsprojekt »Translating Doping – Doping übersetzen« Kriterium und Richtschnur. Es kann nicht bloß darum gehen, ethische Probleme des Dopings in einem theoretischen Rahmen zu erörtern und die Wirklichkeit an ihrem Ort zu lassen, wie sie ist. Oder wie sich einmal Kant unnachahmlich ausdrückte: »Es kann also niemand sich für praktisch bewandert in einer Wissenschaft ausgeben und doch die Theorie verachten, ohne sich bloß zu geben, daß er in seinem Fache ein Ignorant sei: indem er glaubt, durch Herumtappen in Versuchen und Erfahrungen, ohne sich gewisse Prinzipien […] zu sammeln, und ohne sich ein Ganzes (welches, wenn dabei methodisch verfahren wird, System heißt) über sein Geschäft gedacht zu haben, weiter kommen zu können, als ihn die Theorie zu bringen vermag. Indes ist doch noch eher zu dulden, daß ein Unwissender die Theorie bei seiner vermeintlichen Praxis für unnötig und entbehrlich ausgebe, als daß ein Klügling sie und ihren Wert für die Schule […] einräumt, dabei aber zugleich behauptet: daß es in der Praxis ganz anders laute; daß, wenn man aus der Schule sich in die Welt begibt, man inne werde, leeren Idealen und philosophischen Träumen nach gegangen zu sein; mit Einem Wort, daß, was in der Theorie sich gut hören läßt, für die Praxis von keiner Gültigkeit sei.«7 Dies ist, und darin ist Kant uneingeschränkt zuzustimmen, Sache der Philosophie nicht. Vielmehr kommt es ihr darauf an, die konkreten Einzelfälle, allgemeine Theorien und philosophisch konkrete Analysen so aufeinander zu beziehen, dass sich die Zusammenhänge wechselseitig erhellen, und dadurch produktive und innovative Prozesse angestoßen werden. Auch dies ist eine Aufgabe, die Transformation und Übersetzung erfordert.

Das Doping-Problem gehört ohne Zweifel in den Bereich Sportethik. Ja, man kann sagen, dass es, zumindest was die Intensität der Diskussion betrifft, ihren Hauptteil ausmacht. Meiner Beobachtung nach scheint die Dopingproblematik der einzige Gegenstand zu sein, an dem sich die Sportethik im Augenblick abarbeitet. Sportethik ist eine Bereichsethik, eine Ethik für einen bestimmten Ausschnitt unseres menschlichen Handelns, ein Teil der angewandten Ethik. Es gibt zahllose andere Bereiche, in denen es ebenfalls zu erheblichen Problemen mit einander entgegengesetzten Norm- und Präferenzsetzungen kommt. Sport ist da nur ein Bereich unter vielen. Man denke an die seit Jahrzehnten andauernden Diskussionen über Lebensanfang und Lebensende, über Abtreibung und Sterbehilfe. Man denke an Fragen der Gentechnik, der Biowissenschaften, der Globalisierung, der Gerechtigkeit angesichts der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise. Es lässt sich schnell zeigen, dass auch beim Doping Werte wie Gesundheit und Leistungsfähigkeit, Fairness und Siegeswille, miteinander in Konflikt geraten. Solche Fälle gab es sicher schon immer; sie sind aber in unserer heutigen Welt gang und gäbe. Mit einem Wort: Sie sind strukturell bedingt. Naturgemäß interessieren sich die Fachleute in ihren Fächern viel stärker für ihre jeweilige Bereichsethik als etwa ein Philosoph, der eher dahin tendiert, ethische Problemstellungen grundsätzlich in den Blick zu nehmen, um zu fragen, was überhaupt gerechtfertigte Gründe sind, um eine bestimmte Praxis zu ächten oder zu verbieten, sie zu dulden oder zu erlauben. Deshalb ist die spezielle Sportethik von größerem Interesse für die Sportwissenschaft als für die Philosophie. Die Frage ist daher für uns zunächst ganz einfach: Gehört Doping »nur« in den Bereich der Sportethik oder gibt es für die Philosophie noch weitere Felder, in denen die Doping-Problematik eine Rolle spielt?

2 Was ist Doping? Definitionsprobleme

Seit Beginn der europäischen Philosophie bei den antiken Griechen stellt die Philosophie die Was-Frage? So bedrängte bereits Sokrates seine Athener Mitbürger, indem er fragte: Was ist Gerechtigkeit? Was ist Wahrheit? Was ist Wissen? In dieser Fragelinie steht auch die Frage: Was ist eigentlich Doping? Eine erste Antwort gibt der gesunde Menschenverstand: Unter Doping versteht man gewöhnlich die Einnahme von unerlaubten Substanzen oder die Nutzung von unerlaubten Praktiken und Techniken zur Leistungssteigerung im Sport. Die Crux dieser Formulierung liegt allerdings in dem völlig unbestimmten Verweis auf verbotene Stoffe oder Praktiken. Welche Mittel sind verboten und – vor allem – warum? Mancher kennt die Doping-Definition des Europarats aus dem Jahr 1963, der Doping definiert als »die Verabreichung oder den Gebrauch körperfremder Substanzen in jeder Form und physiologischer Substanzen in abnormaler Form oder auf abnormalem Weg an gesunde Personen mit dem einzigen Ziel der künstlichen und unfairen Steigerung der Leistung für den Wettkampf.«8 Diese Definition ist nicht nur überholt, weil es heute auch möglich ist, nicht nur mit natürlichen, sondern sogar mit körpereigenen Substanzen zu dopen. Vielmehr produziert diese Definition einen ganzen Sack voller inhaltlicher Probleme. Etwa: Was ist der Unterschied von natürlicher und künstlicher Leistungssteigerung? Was ist normal? Mehr noch: Was ist die Natur oder die Natürlichkeit des Menschen? Was ist Gesundheit? Was ist Fairness? Schließlich: Was ist Gerechtigkeit? Alles dies sind philosophische Fragen, in die das Dopingproblem konkret hineinspielt.

Heute definiert die WADA nicht zuletzt aufgrund dieser Schwierigkeiten »Doping« durch eine positive Liste verbotener Substanzen. Diese Definition mag rechtlich praktikabel sein, denn auf ihrer Grundlage lässt sich unterscheiden, was im rechtlichen Sinne als Doping zu gelten hat und was nicht. Unbefriedigend ist sie, weil sie Recht und Gerechtigkeit voneinander trennt. Was Recht ist, wird durch einen Normensetzungsprozess bestimmt. Diese Dopingdefinition ist insofern das Produkt einer positivistischen Rechtsauffassung. Das Recht wird dadurch von der Gerechtigkeit isoliert. Recht und Moral kommen nicht mehr zur Deckung, eine ursprüngliche isomorphe Sphäre von Handlungs- und Normbewertungsprozessen spaltet sich auf in zwei getrennte Bereiche, – ein Problem, das spätestens seit Immanuel Kant ein Grundproblem der modernen Gesellschafts- und Rechtsphilosophie ist und das als solches in der Philosophie heftig diskutiert wird, etwa bei Hans Kelsen oder John Rawls, um nur zwei berühmte Vertreter unterschiedlicher Richtungen zu nennen. Und es scheint so, dass sich auch für die Dopingproblematik keine gemeinsame Basis für Recht und Moral mehr finden lässt.9

Im Zusammenhang damit ergibt sich eine weitere philosophische Frage. Sie ist theoretisch, insbesondere sprachphilosophisch und betrifft die Definierbarkeit von Sachverhalten wie Doping überhaupt. Auf der einen Seite besteht die Notwendigkeit einer klaren Doping-Definition, denn durch diese Definition werden Handlungen verboten und die Übertretung des Verbots mit Sanktionen belegt. Andererseits liegt dem Dopingverbot eine offenkundig empirisch äußerst variable und veränderliche positive Liste zugrunde. Hier scheint es eine Ambivalenz zu geben zwischen dem Doping als empirischem Sachverhalt einerseits und den Erfordernissen einer gesetzlichen Norm andererseits. Doping als empirischer Begriff lässt sich offenkundig nicht trennscharf definieren. Doping als Norm bedarf hingegen einer trennscharfen Begriffsbestimmung.

In der Philosophie ist es mehr oder minder klar,10 dass sich empirische Begriffe gar nicht definieren lassen, dann nämlich, wenn man einen strengen Begriff von Definition zugrunde legt. Für eine Definition wäre zumindest zu fordern, dass sie einen Begriff gegen andere möglichst gut abgrenzt. Die Begriffserklärung sollte möglichst exakt sein und inhaltsreich. Und sie muss praktikabel sein, d. h. sie muss im sachlichen Kontext einleuchten und wissenschaftlich fruchtbar sein, d. h. in einer weiterführenden Theoriebildung sollte von ihr Gebrauch gemacht werden können. Bei normalen Begriffen ist das gewöhnlich schwierig, denn Begriffe, die beim alltäglichen Sprechen gebraucht werden, lassen sich gar nicht klar umreißen oder etwa von anderen Begriffen trennscharf unterscheiden. Lebendiges Sprechen erzeugt immer wieder Überschneidungen, Aufweichungen, Anspielungen, Überblendungen, Metaphern. Das ist für unser Sprechen überhaupt nicht schlimm; im Gegenteil, denn daraus entstehen Witz und Ironie, Ausdruckskraft und Poesie, Romane und Gedichte. Aber es hat zur Folge, dass sich Phänomene wie Sport und Doping nicht hinlänglich definieren lassen, so lange lebendige Menschen darüber sprechen. Doping ist daher auch ein gutes Beispiel für sprachphilosophische Überlegungen zwischen Pragmatismus und Normativität und die Prozesse, die einsetzen, wenn umgangsprachliche Ausdrücke rechtskonstitutive Bedeutung erlangen.11

3. Grenzwerte als wissenschaftstheoretisches Problem

In ihrem Anti-Doping-Code nennt die WADA an erster Stelle folgende Art des Verstoßes, durch den Doping definiert ist, nämlich »das Vorhandensein eines verbotenen Wirkstoffes, seiner Metaboliten oder Marker in den Körpergewebs- oder Körperflüssigkeitsproben eines Athleten.« Auch die Studie von Dr. Lundby kreist um den Nachweis verbotener Substanzen. Erst in zweiter Linie nennt die WADA auch die Anwendung von verbotenen Wirkstoffen und Methoden. Tatsächlich stimmt diese Reihenfolge mit unserem landläufigen Bild von einem überführten Doping-Sünder überein. Zunächst stellt ein Labor durch einen Test fest, dass verbotene Wirkstoffe im Körpergewebe oder in Körperflüssigkeiten vorhanden sind. Eine zweite Probe wird genommen, um Gewissheit zu erlangen. Sind die Tests positiv, wird daraus geschlossen, dass der Athlet verbotene Wirkstoffe oder Methoden angewendet hat. Wehren sich Athleten gegen ihre Verurteilung als Dopingsünder, geschieht dies in der Regel durch eine Bestreitung des Schlusses vom Vorhandensein von verbotenen Wirkstoffen entweder auf die Absicht zu einer verbotenen Anwendung oder gar gegen die faktische Anwendung verbotener Wirkstoffe und Methoden. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Grenzwerte, besonders dann, wenn es um Substanzen geht, die auch ›natürlicherweise’ im menschlichen Körper vorkommen. Für eine wissenschaftstheoretische Fragestellung ist es ausgesprochen spannend, durch welche Methoden solche Grenzwerte überhaupt festgelegt und wie deren Übertretung festgestellt werden.

Dabei geht es einerseits um das, was man als Normalwert bezeichnen kann, und andererseits darum, was als Abweichung aufzufassen ist. Grenzwerte sind Konstrukte einer empirischen Forschung; sie liegen nicht in der Biologie des Menschen begründet, obwohl sie sich natürlich auf sie beziehen. Gleichzeitig sind die Grenzwerte Teil einer rechtlichen Ordnung. Daher sind sie eingebunden in einen normativen Kontext. Diese spezielle doppelte Daseinsweise von Grenzwerten interessiert die Philosophie brennend. Denn der Grenzübertritt aus dem Bereich medizinischer Analysen in den Bereich der Normen vollzieht sich auf geheimnisvolle Weise. Ein unscheinbarer Zettel mit ein paar Zahlen wandert von einem Labor in ein Büro und auf diesem Weg verwandeln sich bloße Mengenangaben in Grenzwerte, die nun ausschlaggebend werden für Sanktionen gegen einen Sportler oder eine Sportlerin. Dies Wunder geschieht durch Bewertungen, die oft in komplexen Prozessen hervorgebracht werden und selten ganz unumstritten sind.

Sein und Sollen, Faktizität und Geltung lassen sich nicht aufeinander reduzieren. Auch dies ist ein Problem, dass die Moderne immer wieder beschäftigt, neuerdings ganz prominent in einem anderen Bereich, nämlich dem der Neurophysiologie. Dort wird von der Faktizität messbarer Hirnprozesse auf intentionale Akte geschlossen, mit der bekannten, vielfach propagierten Konklusion, dass Freiheit in der menschlichen Physiologie gar nicht vorkomme. Doping wirft daher nicht nur moralische und ethische Probleme auf, Probleme, die mit den Handlungsmotiven Einzelner oder generellen normativen Regeln zusammenhängen. Doping ist darüber hinaus ein Problem der Wissenschaftstheorie. Beim Doping, bei der Festlegung von Grenzwerten, bei der Beurteilung der lei­stungssteigernden Wirkung von Substanzen, wird permanent von den Messergebnissen, die rein quantitativ sind, auf Änderungen von Eigenschaften, d. h. auf qualitative Veränderungen geschlossen, die wiederum in Normsetzungen münden. Das ist keineswegs ein Problem allein des Dopings, sondern geht weit darüber hinaus und weist zahlreiche Berührungspunkte mit der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie auf und gehört letztlich sogar in den Bereich der theoretischen Philosophie.

4. Moralische Probleme mit Menschenversuchen

Dr. Lundby erklärt in seiner Studie, dass er jungen sportlichen Probanden EPO verabreicht hat, um zu überprüfen, wie sich das Medikament auf die Leistungsfähigkeit auswirkt und ob und inwieweit sich die Einnahme von EPO durch gängige Testverfahren nachweisen lässt. Nun gibt es viele Argumente, die dafür sprechen, dass es moralisch bedenklich ist, gesunde Menschen mit Medikamenten zu behandeln, damit sie körperlich oder geistig leistungsfähiger sind. Im Großen und Ganzen werden derartige Argumente angeführt, wenn es darum geht, bestimmte Praktiken als Doping zu verbieten. Sportliche Höchstleistungen sollen von gesunden Menschen ohne medikamentöse Hilfsmittel erzielt werden. Dieses Verbot hat einen guten Sinn, der darin besteht, dass man gesunden Menschen prinzipiell keine hochwirksamen Pharmaka verabreichen soll, da ein hoher Wirkungsgrad erfahrungsgemäß stets mit unerwünschten Nebenwirkungen einhergeht. Und es gilt auch ganz sinnlogisch: Ist der Mensch gesund, dann kann er eigentlich auch nicht geheilt werden. Hier ist eine grundlegende Ambivalenz zwischen Therapie und Leistungssteigerung zu konstatieren.12 Beide gehen keinesfalls immer Hand in Hand, denn sonst gäbe es das Dopingproblem gar nicht. Zweck beim Doping ist nicht die Gesundheit des Menschen, sondern irgendein anderer Zweck, z.B. die verbesserten Chancen einen Wettkampf zu gewinnen. In Deutschland formuliert das Arzneimittelgesetz eine allgemeine Norm, nämlich den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung, und gibt Regeln für die hohen Anforderungen an die Sorgfalt im Umgang mit Arzneimitteln durch die Pharmaindustrie, Apotheker und Ärzte.

Nun verstoßen nicht nur manche Sportler gegen Arzneimittelgesetz und Dopingverbot, sondern im Prinzip auch die Probanden der Studie, wenn sie denn Verbandssport treiben würden. Da diese Versuche durchführt wurden, um medizinische Erkenntnisse zu gewinnen, handelt es sich um Menschenversuche, die besonderen rechtlichen und moralischen Kriterien unterliegen. Auch wenn solche Experimente rechtlich nicht zu beanstanden sind, denn die Studie ist von der zuständigen Ethikkommission geprüft und genehmigt worden, werfen sie doch erhebliche moralische Probleme auf. Zunächst dienen sie dem Zweck, die Wirksamkeit einer ohnehin verbotenen Praxis, nämlich die Einnahme von EPO zu Zwecken der sportlichen Leistungssteigerung nachzuweisen. Die Studie begründet die Wichtigkeit dieser Versuche mit der großen medizinischen Gefahr, die von EPO ausgeht. Dieses Gefährdungspotential hätte ebenso als ein starkes Argument gegen diese Versuche gewertet werden können. Die Studie macht klar, dass die Probanden einem erheblichen Risiko ausgesetzt waren. Man könnte aber auch folgern, die Einnahme von EPO unter ärztlicher Betreuung stelle eben kein besonderes Risiko dar, was für die Doping-Prävention im Hochleistungssport, zumindest was Epo betrifft, keine gute Werbung ist. Ein weiterer Zweck der Untersuchung war die Prüfung der standardisierten und von der WADA akkreditierten EPO-Labortests. Hier stellt sich wiederum die Frage, ob diese Ziele: Nachweis der Wirksamkeit einer ohnehin verbotenen Praxis und Überprüfung gängiger Dopingtests ausreichende Gründe für Versuche an Menschen darstellen.

Natürlich kann ich an dieser Stelle keine Antwort auf diese Fragen geben, ob Menschenversuche ethisch vertretbar sind, wenn sie zu einer verbesserten Doping-Kontrolle führen; ich habe da allerdings meine Zweifel. Aber es dürfte klar sein, dass diese Problemstellung nicht nur für die Sportethik von Relevanz ist, sondern ganz allgemeine ethische Grundfragen berührt, etwa die, wann es erlaubt oder verboten ist, überhaupt Menschenversuche anzustellen. Oder: Welche Ziele rechtfertigen eigentlich, dass gefährliche Untersuchungsreihen mit Menschen gemacht werden? Oder noch schärfer: Ist die Dopingverfolgung durch eine nicht staatliche Institution wie die WADA ein ausreichender und ethisch konsistenter Grund, um Testreihen an Menschen durchzuführen? Die Fragen führen tief in Problemstellungen der angewandten Ethik hinein.

5. Von der Kontrolle zur Kontrollkultur

Tatsächlich gibt es gute Untersuchungen darüber, dass eine annähernd lückenlose oder auch nur befriedigende Kontrolle aller Leistungssportler völlig außerhalb der realistischen Möglichkeiten liegt, dies sowohl in logistischer als auch finanzieller Hinsicht. Ferner gibt es das nicht unerhebliche Phänomen falsch positiver Tests,13 Tests also, die fehlerhafterweise das Vorhandensein einer Substanz anzeigen. Die Forderung nach einer besonderen ›Kontrollkultur‹ im Sport ist, abgesehen davon, dass dieses Kompositum in diesem Zusammenhang allein schon als geeigneter Kandidat für das ›Unwort des Jahres‹ gelten könnte, möglicherweise schon deshalb moralisch zu verwerfen, weil keine staatliche Instanz für eine adäquate, d. h rechtsstaatliche und selbst kontrollierbare Durchsetzung von Dopingtests sorgen kann. Die Forderung nach einer solchen Observanz des Sports durch den Staat führte allerdings zu ganz anderen Schwierigkeiten rechts- und staatsphilosophischer Natur.

Allerdings sollte man nicht verkennen, dass die ›Kontrollkultur‹ weit mehr ist als der Versuch, Doping im Sport zu verhindern. Sport ist ein Konsumgut, Sport dient der Unterhaltung, Sport ist eine ›inszenierte Erlebniswelt‹. Unsere gesamte Gesellschaft entwickelt eine Kontrollkultur, bei der Kontrolle nicht mehr durch Dritte, etwa den Staat und seine Organe ausgeübt wird, sondern in der die Kontrolle internalisiert und zur Selbstkontrolle wird, ja, die Gesellschaft entwickelt sich selbst zu einer Kontrollkultur. Ein klares Zeichen dafür ist das ›Controltainment‹ (»Big Brother«),14 das den Sport als konsumierbares Medienereignis umfasst. Die Kontrollaktivitäten der Akteure werden selbst zum Teil der Inszenierung. Die Kontrolle ist nun zugleich Selbstkontrolle, sie schafft den kontrollierten Körper, der seinen gesellschaftlichen Wert nur besitzt, wenn er unter Kontrolle ist. Schließlich sollte man im Auge behalten, was Michel Foucault vor nun über dreißig Jahren formulierte und was seine Gültigkeit – trotz veränderter Rahmenbedingungen – nicht nur bewahrt, sondern sich sogar – was die Subtilität der Wirkungsmechanismen betrifft – potenziert hat: » […] der Körper steht […] unmittelbar im Feld des Politischen; die Machtverhältnisse legen ihre Hand auf ihn; sie umkleiden ihn, markieren ihn, dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zu Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen. Diese politische Besetzung des Körpers ist mittels komplexer und wechselseitiger Beziehungen an seine ökonomische Nutzung gebunden; zu einem Gutteil ist der Körper als Produktionskraft von Macht- und Herrschaftsbeziehungen besetzt; auf der anderen Seite ist seine Konstituierung als Arbeitskraft nur innerhalb eines Unterwerfungssystems möglich (in welchem das Bedürfnis auch ein sorgfältig gepflegtes, kalkuliertes und ausgenutztes politisches Instrument ist); zu einer ausnutzbaren Kraft wird der Körper nur, wenn er sowohl produktiver wie unterworfener Körper ist. Diese Unterwerfung wird aber nicht allein durch Instrumente der Gewalt oder der Ideologie erreicht; sie kann sehr wohl direkt und physisch sein, Kraft gegen Kraft ausspielen, materielle Elemente einbeziehen und gleichwohl auf Gewaltsamkeit verzichten; sie kann kalkuliert, organisiert, technisch durchdacht, subtil sein, weder Waffen noch Terror gebrauchen und gleichwohl physischer Natur sein.«15

6. Streitende Wissenschaftler – unterschiedliche Interessen

Dr. Lundbys Studie ist von verschiedenen Seiten scharf angegriffen worden. So kommt beispielsweise Wilhelm Schänzer, der bekannteste deutsche Dopinganalytiker, in einer Stellungnahme zu dieser Studie aus dem Jahr 2008 zu folgendem vernichtenden Urteil: »Die Ergebnisse der Publikation sind sachlich falsch, Ausdruck großer Unkenntnis der kritisierten Methode und der Abläufe in Dopingkontrolllaboratorien und basieren auf einer fehlenden Überprüfung der zur Verfügung gestellten Daten und des Manuskripts. Dies ist wissenschaftlich nicht akzeptabel.«16 Eine solche scharfe Zurückweisung von Forschungsergebnissen ist auch in der medizinischen Forschung nicht an der Tagesordnung. Die Kritik bringt zum Ausdruck, dass in der Studie nicht nur schlechte Arbeit geleistet wurde, sondern formuliert auch den Vorwurf, die Studie habe gegen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis verstoßen.17 Dabei geht es darum, dass das Labor B nicht über die volle Absicht der Studie informiert war und auch die Studie vor der Publikation nicht erhalten habe. Deshalb konnte, so die Kritik, ein gravierender Fehler der Studie nicht bereinigt werden. »Ein Inter-Laborvergleich dieser Daten ist wissenschaftlich aus zwei Gründen nicht möglich und wurde in der Publikation falsch dargestellt. 1. Labor A wendete die von den Autoren kritisierte IEF-Methode an, die bei Dopingkontrollen eingesetzt wird, während Labor B nicht die gleiche, sondern eine neue Methode (SDSPage) einsetzte. 2. Auffällige Ergebnisse mit der neuen Methode wurden von Labor B als ›verdächtige‹ Proben berichtet, da das Verfahren für die Doping-Analytik noch nicht anerkannt ist. Die Autoren haben diese ›verdächtigen‹ Proben als negative Proben bewertet, was absolut falsch ist.«18

Die vollständige Liste der der Studie vorgeworfenen Fehler ist lang und füllt ganze zehn Seiten. Natürlich ist Wilhelm Schänzer nicht irgendein uninteressierter Kritiker. Vielmehr stammen die von der Studie angeführten Testergebnisse des Labors B aus seinem Kölner WADA-akkreditierten Anti-Doping-Labor. Aber auch Dr. Lundby ist kein neutraler, bloß der Wissenschaft verpflichteter Forscher: Seine Studie wurde mit einem nicht unerheblichen Betrag von der Nationalen Anti-Doping-Agentur Dänemarks (Anti Doping Danmark) finanziell unterstützt.19 Mit dem Geld einer nationalen Anti-Doping-Agentur wurden also die Dopingtests zweier WADA-Labors kompetitiv evaluiert. Man könnte auch sagen, die Dopingtester wurden selbst getestet. Das Anliegen ist, teilt man die letztlich schizophrene Logik einer ›Kontrollkultur‹, durchaus nachvollziehbar. Verwunderlich nur, dass die Forscher weder die getesteten WADA-Labors noch den Leser über diese Absichten informieren.

Nicht nur Wilhelm Schänzer hat massive Kritik geäußert; auch Dr. Lundby hat sich öffentlich mehrfach zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen geäußert und sie natürlich zurückgewiesen. Lundbys Hauptargument: Man hätte auf die Testergebnisse des Labors B aus Köln verzichten können und wäre zum selben Resultat gekommen. Diese Einlassung wirkt allerdings reichlich schwach, denn die Studie hebt gerade darauf ab, dass sich überraschende Unterschiede bei den Ergebnissen der WADA-Labors ergeben hätten.20 Denn dass es bei Epo-Tests Schwierigkeiten gibt, wusste die Fachwelt schon länger. Der Doping-Experte Werner Franke kommt sogar zu dem Schluss, dass die Studie von Lundby gar nicht innovativ sei. Seine Arbeitsgruppe sei schon zwei Jahre zuvor zum selben Ergebnis gekommen. Lundby habe darüber hinaus den letzten Stand der Labortests gar nicht berücksichtigt.21

Erstaunlich ist bei dem ganzen Vorgang, dass Schänzer und Lundby beide, wenn ich mich nicht völlig irre, entschiedene Doping-Gegner sind. Sie kämpfen also auf derselben Seite. Selbstverständlich steht es mir als Nicht-Fachmann gar nicht zu, sich hier ein Urteil über die Details und sachlichen Einzelheiten dieser Kontroverse zu erlauben. Noch weniger interessiert mich die Moral der Akteure. Ich will und kann die Kopenhagener Studie auch gar nicht in Misskredit bringen. Die kritische Reflexion der Philosophie richtet sich vielmehr auf ganz andere Aspekte der Angelegenheit. Tatsächlich scheint mir dieser vor allem in der Medienwelt und im Internet breitgetretene Streitfall, dessen Einzelheiten sicher in wenigen Monaten nur noch Stoff für Historiker ist, einen tiefen Einblick in das Phänomen »Doping« zu gewähren. Zunächst werfen die genannten Ereignisse Fragen nach der Wissenschaftsethik selbst auf. Trotz aller vorhandenen Regeln scheint keine Klarheit darüber zu bestehen, wie Wissenschaftler korrekt verfahren sollen, vor allem dann nicht, wenn Untersuchungsergebnisse außerordentlich überraschend sind und gängige Praktiken, wie die Testverfahren bei Epo, völlig infrage stellen. Wissenschaftstheoretisch ist völlig klar: In einem solchen Fall muss man zuerst nach möglichen Fehlerquellen suchen, denn der Beweisdruck für eine Außenseiterposition mit Folgen für die gängige Praxis ist hoch.

Dann, und das scheint mir methodologisch noch wichtiger, gibt es zwischen den Laborergebnissen und deren Interpretation eine bemerkenswerte Lücke. Bezüglich des neuen Verfahrens, das das Labor B von Herrn Schänzer angewandt hat, den anders klassifizierten und anders codierten Ergebnissen von Labor A und der schlussfolgernden Interpretation der Studie, nach der Epo-Tests generell unzuverlässig sind, gibt es, wie die Diskussion zeigt, erheblichen Diskussions- und Interpretationsbedarf. Hier herrschen offenkundig Sprach- und Verständnisschwierigkeiten. Genau genommen liegt der hochinteressante Fall vor, dass über die Messergebnisse Einigkeit herrscht, aber deren Auslegung zu konträren Schlussfolgerungen führt. Dies ist eine exegetische Grundsituation, die der Philosophie seit ihrer Entstehung geläufig ist: Die Texte liegen fix und fertig vor, nur deren Interpretationen sind höchst unterschiedlich. Nun beabsichtigt die medizinische Terminologie gerade, eindeutig und international weitgehend einheitlich zu sein. Die avancierten Codes der Dopinglabors werden aber offenkundig nicht von jedem Mediziner richtig verstanden, insbesondere dann nicht, wenn es um neue Testmethoden geht. Gerade bei neuen Forschungsentwicklungen scheint es generell eine interessante Dialektik zwischen Innovation und Standardisierung zu geben. Messungen, um es zu verallgemeinern, brauchen immer Interpretationen, oder anders ausgedrückt: sie bedürfen der Übersetzung. Denn bei diesen Übersetzungen sind die strittigen Interpretationen entstanden. Übersetzungen brauchen aber Routinen, die immer schwieriger zu entwickeln sind, je spezialisierter Wissenschaftler arbeiten. Für diese Übersetzungsarbeit ist die Philosophie indes nicht zuständig. Sie betrachtet generell das Phänomen, dass auch in exakten Wissenschaften Narration und Hermeneutik eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen.22

7 Das Kräftefeld der Medien

Zuletzt: Die Studie aus Kopenhagen wurde unmittelbar vor der Tour de France und den Olympischen Spielen im vergangenen Jahr veröffentlicht. Die dadurch erzeugte Aufmerksamkeit, der Zeitdruck der Beteiligten einschließlich der darüber berichtenden Journalisten ist auch und gerade in Verbindung mit den sportlichen Großereignissen zu sehen. Daran lässt sich ermessen, dass die Bedeutung des Sports längst auch die vermeintlich neutralen exakten Wissenschaften mit ihren standardisierten Methoden und Operationalisierungen eingeholt hat. Die Philosophie schließt hieran Untersuchungen an, die über das zugrundeliegende Vielkräfte-Feld von Sport, Medien, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Konsum handeln. Hier scheint eine isolierte Betrachtung einzelner Kräfte nur bedingt weiterzuhelfen. Es geht nicht nur darum, dass der Sport nicht aus politischen, wirtschaftlichen und medialen Interessen herausgelöst werden kann. Analoges gilt nämlich, wie die Studie beispielhaft gezeigt hat, auch für die exakten Wissenschaften, zumindest aber für die Medizin, wenn sie sich dem Kampf gegen das Doping widmet. Dass der Sport eine Sonderwelt mit eigenen Regeln sei, dieses Diktum wird an der Wirklichkeit des Hochleistungssports und seiner Einbettung in eine technisierte Hochleistungsmedizin ad absurdum geführt. Die Aufmerksamkeit der Medien ist hoch. Mediale Aufmerksamkeit erhöht die Möglichkeit, Forschungsgelder einwerben zu können. Dieser systemischen Verklammerung kann sich die Wissenschaft nicht mehr im Namen der reinen, interessenfreien Forschung entziehen. Auf der anderen Seite ist es für die Wissenschaft aus den gleichen systemischen Zwängen unmöglich, auf ihre ideologische oder politische Neutralität völlig zu verzichten. Auch in dieser Hinsicht ist das reflexive Übersetzungspotential der Philosophie gefragt.

Zu allen genannten Aspekten der Doping-Problematik und noch einigen mehr werden wir in den nächsten Jahren Untersuchungen und Veranstaltungen durchführen. Aufklärung und Übersetzung heißt hier, wie gezeigt, nicht nur Prävention, sondern auch Information. Übersetzen heißt auch, aufklären über die komplexen Zusammenhänge, in die das Doping eingebettet ist. Letztlich geht es auch um die Erklärung dessen, was die Moderne an Widersprüchen und Aporien erzeugt, in denen wir uns alltäglich oder auch exzeptionell – wie im Sport – bewegen.

1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen für die Veröffentlichung leicht veränderten Vortrag, gehalten bei der Auftaktveranstaltung des BMBF-geförderten Forschungsprojekts »Translating Doping – Doping übersetzen« an der Humboldt-Universität zu Berlin am 7.5.2009.

2 Dr. Lundby hat bei derselben Auftaktveranstaltung auf Einladung des Instituts für Sportwissenschaft der Humboldt Universität zu Berlin hin, u. a. Ziele, Methoden und Resultate seiner Studie vorgestellt. Es handelt sich um: Lundby, C., Achman-Andersen, N. J., Thomsen, J. J., Norgaard, A. M., Robach , P. »Testing for recombinant human erythropoietin in urine: problems associated with current anti doping testing.” In: Journal of Applied Physiology, 105 (2008) 417-419, an die sich im Vortrag wie im Folgenden meine Bemerkungen anschließen.

3 Vgl.: Berry, Donald. A.: »The Science of doping.” In: Nature 454 (2008), S. 692-693;Kommentare dazu in Nature (2008) 455, S. 166-167.

4 »[…] the aims of the present study were to investigate the detection power of the test as well as the variability in the test power comparing the results of two WADA-accredited laboratories.« (Lundby, C., et al. »Testing«, S. 417.

5 »During this period, laboratory A found only two of 24 samples to be positive and three to be suspicious, and laboratory B found no positive or suspicious samples.« (Lundby, C., et al. »Testing«, S. 417.

6 Vgl.: Abel, Günter (Hg.): Das Problem der Übersetzung – Le problème de la traduction. Berlin 1999. Darin: ders.: »Übersetzung als Interpretation.«, S. 9-30.

7 Kant, Immanuel: »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.« In: Kant, Immanuel: Werke in zwölf Bänden. Band 11, Frankfurt am Main 1977, S. 127-130, S. 128.

8 Zitiert nach: Haug, Tanja: Doping. Dilemma des Leistungssports. Hamburg 2006, S. 28.

9 Vgl. dazu: Asmuth, Christoph: »Dopingdefinitionen – von der Moral zum Recht.« In: Was ist Doping? Fakten und Probleme der aktuellen Diskussion. (Hg.) Asmuth, Christoph. Bielefeld 2010, S. 11-31.

10 In der Philosophie des 20. Jahrhunderts, vor allem in der Wissenschaftstheorie, sind vielfältige Definitionstheorien entwickelt worden, die auf die komplexe Entwicklung der exakten Wissenschaften zurückzuführen sind. Diese höchst unübersichtliche Situation möchte ich hier ausklammern, da der vorliegende Fall des ›Sports‹ und des ›Dopings‹zwar der Sache nach ebenfalls kompliziert ist, aber keinesfalls mit einem Terminus verwechselt werden darf, der in die Theoriebildungen der exakten Wissenschaften eingehen kann. Zur Definitionstheorie: Rickert, Heinrich: Zur Lehre von der Definition. 3Tübingen 1929; Dubislav, Walter: Die Definition. Meiner, 4Hamburg 1981; Gabriel, Gottfried: »[Artikel:] Definition.« In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. (Hg.) Mittelstraß, Jürgen. 22005, S. 137–139; Stegmüller. Wolfgang: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Band I: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin 1974.

11 Die angelsächsische Tradition, sowohl in der analytischen Sprachphilosophie als auch in der Rechtstheorie, hat hier ganz andere Entwicklungen vorzuweisen als die ›kontinentale‹. Das ist ein sehr spannendes Feld, weil die Auswirkungen rein theoretischer Entscheidungen für oder gegen ein sprachphilosophisches Konzept sich bis in die Formulierung und Konstruktion von Gesetzestexten herunterbrechen lassen und dort normative Relevanz entfalten (etwa wie beim Doping durch eine Legaldefinition). Hier sind Unterschiede zwischen den Rechtssystemen zugleich Sprach- und Sprachauffassungsgrenzen, die aber im Hinblick auf viele gegenwärtige Probleme und unter dem Druck einer zunehmenden Internationalisierung – oder sogar Globalisierung – verwischt zu werden scheinen.

12 Grüneberg, Patrick: »Die Ambivalenz zwischen Theorie und Leistung.« Manuskript.

13 »Die Interpretation des Ergebnisses eines Tests auf eine oder mehrere Substanzen bei einem Sportler ist bereits alles andere als trivial, kann jedoch bei positivem Ergebnis als weitgehend sicherer Hinweis auf einen tatsächlichen Dopingfall gelten. Trotzdem entlastet dies nicht die gesamte Anti-Doping-Teststrategie von dem Problem, dass durch eine in der Vergangenheit wachsende Zahl jährlich analysierter Dopingproben und durch eine wachsende Zahl verbotener Substanzen und Methoden die Wahrscheinlichkeit fälschlicher Beschuldigungen ebenfalls wächst. […] Der Schutz möglicherweise Unschuldiger vor fälschlichen Beschuldigungen stellt wesentlich höhere Anforderungen an die Testqualität.« [Pietsch, Werner: »Dopingkontrollen zwischen Testtheorie und Moral – Nicht intendierte Folgen prinzipiell nicht perfekter Dopingtests.« In: Emrich, Eike – Pitsch, Werner (Hg): Sport und Doping – zur Analyse einer antagonistischen Symbiose. Frankfurt am Main, Berlin, Bern u.a. 2009, S. 97-111; hier S. 107]

14 Kirsten Toepfer-Wenzel kommt zum einem Schluss, der voll und ganz auf das Doping-Problem im Sport zutrifft: »Es entwickelt sich somit eine Kontrollkultur, die sich durch den Einsatz immer neuer, verbesserter Kontrolltechnologien und die Wechselwirkung aus Kontrolle durch Unterhaltung und Unterhaltung durch Kontrolle umschreiben lässt.« (Toepffer-Wenzel, Kirsten: E-Watch und Controltainment. Zur Kriminologie der Kontrollkultur. Diss. Hamburg 2005, S. 7) An einer anderen Stelle ihrer Arbeit weist sie auf die innere Logik dieser Entwicklung hin: »Eine unabdingbare Voraussetzung für den Konsum, der zentraler Bestandteil der heutigen Freizeit-, Erlebnis- und Ereignisgesellschaft ist, sind Sicherheit und Kontrolle. Doch zu schützen sind in diesen Erlebniswelten nicht nur Personen und Waren, sondern ›die Simulation, die Inszenierung der Erlebniswelt. Simulation braucht Steuerung, Steuerung braucht Kontrolle‹« (a. a. O., S. 119). – Zur Diskussion über Kontrolle und Überwachung grundlegend: Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 1977. Ferner: Borries, Friedrich v.: Urbane Kommunikation. Die Transformation von Videoüberwachung in ein urbanes Kommunikationsangebot. In: Ästhetik & Kommunikation, Heft 111 (2000), S. 79-82; Deleuze, Gilles: »Das elektronische Halsband. Innenansicht der kontrollierten Gesellschaft.« In: Kriminologisches Journal 24 (1992), S. 181-186; ders. »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften.« In: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a. M. 1993, S. 254-262; Garland, David: Kultur der Kontrolle. Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart. Frankfurt a. M./New York 2008 (engl. 2002); Gössner, Rolf: »Big Brother« & Co. Der moderne Überwachungsstaat in der Informationsgesellschaft, Hamburg 2000; Legnaro, A.: »Präludium über die Kontrollgesellschaften.« In: Kriminologisches Journal 35 (2003), 4, S. 296-301.

15 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, S. 37.

16 »Erklärung.« In: http://www.dshs-koeln.de/bioche­mie/rubriken/07_Info/Comment_Lundby%20%282%
29.­pdf
.

17 Werner Pitsch kommt neuerdings in seiner grundlegenden Studie (»Dopingkontrollen zwischen Testtheorie und Moral – Nicht intendierte Folgen prinzipiell nicht perfekter Dopingtests.« In: Emrich, Eike – Pitsch, Werner (Hg): Sport und Doping – zur Analyse einer antagonistischen Symbiose. Frankfurt am Main, Berlin, Bern u.a. 2009, S. 97-111) zu dem Schluss, dass die Kritik an der Studie von Lundby durch Schänzer durchaus berechtigt sei (S. 98).

18 »Stellungnahme des Kölner Dopinglabors zur Publikation von Lundby et al.« In: http://www.dshs-koeln.
de/wps/wcm/connect/b513b8804a40f7df8f5aff74077f597a/pm0850.pdf?MOD=AJPERES
(Stand: 7.9.2009)

19 Vgl.: http://www.antidoping.dk/Anti-doping%20
forskning
%202009/Anti-doping%20forsk­ning%202007.aspx (Stand: 4.9.2009)

20 »Conclusion: this study demonstrates a poor agreement in test results comparing two WADA-accredited laboratories.« In: Lundby, C., Achman-Andersen, N. J., Thomsen, J. J., Norgaard, A. M., Robach , P.: »Testing «, S. 417.

21 »Studie bringt Doping-Epotest in Verruf.« In: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,562556,00.html (Stand: 4.9.2009) (Stand: 4.9.2009)

22 Vgl. Henning, Tim: »Naturalismus und erzählte Geschichte.« In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 34 (2009), H. 2, S. 174-195.