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Doping und Gerechtigkeit

Das Prinzip des Leistungssports ist die Leistung. Allein durch diese banale Feststellung erweist sich der Sport als ein Phänomen der Moderne. Es hat zahlreiche Versuche gegeben, den Sport eindeutig abzugrenzen, die alle mehr oder weniger als gescheitert gelten dürfen.1 Sicher ist aber, dass sich die antiken Wettkämpfe, die zu Ende des 19. Jahrhunderts Pate standen für die olympische Bewegung, vom modernen Sport in zahlreichen Hinsichten unterscheiden.2 Bedeutsam ist hier sicher die kultische Einbindung der antiken Wettkämpfe, die häufig von der Dauer und der Bedeutung her die eigentlichen Wettkämpfe dominierten. Es handelte sich nicht um eine beliebige, mehr oder weniger lästige Begleitmusik, sondern der Kult war das eigentliche Ziel der Spiele. Die kulturelle Kodifikation der athletischen Bewegung wird von den Fachleuten für Antike und Gegenwart als sehr verschieden bewertet. In der Antike könnte es vielleicht Sinn machen von einer Sonderwelt der Wettkampfspiele zu sprechen, denn tatsächlich gibt es dort eine örtliche und zeitliche Trennung von der ›normalen‹ Lebenswelt, mit besonderen, vor allen Dingen kultisch geprägten Regeln.

Dagegen orientiert sich der moderne Sport an der Hochleistung und der Konkurrenz. Diese Entwicklung macht nur Sinn, wenn die Athleten einigermaßen unter gleichen Regeln antreten, innerhalb derer der Wettkampf stattfinden kann. Wie das im Einzelnen geschieht, ist natürlich sehr unterschiedlich. Beim Boxen gibt es Gewichtsklassen, bei Athleten aber keine Größenklassen, etwa beim Hochsprung. Man darf vermuten, dass solche Restriktionen aufgrund der Gefährdung der Athleten im Wettkampf eingeführt wurden und nicht, um gleiche Ausgangsbedingungen herzustellen. Tatsächlich kann man davon ausgehen, dass für den Wettkampf- und Konkurrenzsport eine regulierte Ungleichheit konstitutiv ist. Die Athleten starten nicht vom gleichen Leistungsniveau aus in den Wettkampf, im Gegenteil. Ein Handikap ist im modernen Sport selten (Golf, Schach, Go, Pferdesport) und dient eher der Ermöglichung eines (spannenden und anspornenden) Wettkampfs bei beschränktem Teilnehmerkreis als einer formell verstandenen Chancengleichheit unter Fairnessaspekten.3 In der Regel versuchen die Athleten, gegebene Ungleichheit durch besondere individuelle Trainingsmaßnahmen auszugleichen. Vor diesem Hintergrund ist es allein die positiv gesetzte Norm der Wettkampfregeln, die darüber entscheidet, welche Maßnahmen erlaubt sind. Aus diesem Grund ist die »Chancengleichheit im Sport« weder ein schützenswertes Rechtsgut, wie es die Vertreter einer Aufnahme des Dopingverbots in das Strafgesetzbuch fordern, noch ist es eine dem Sport selbst gegenüber angemessene Bewertung. Mit dem gleichen Argument könnte man nämlich für das Doping argumentieren, weil dadurch gegebene Ungleichheiten ausgeglichen werden könnten, »Chancengleichheit« allererst hergestellt würde.

Fairness soll nun in diesem Zusammenhang eine besondere sportliche Tugend des Athleten sein.4 Über die Einhaltung der Wettkampf­regeln und ein angemessenes Verhalten hinaus soll der Sportler sich auch unter den erschwerten Bedingungen des Wettkampfs anständig verhalten und vor allem die Mitathleten als Partner achten. Aber diese Form der Fairness hat mit Gerechtigkeit kaum etwas zu tun. Gerechtigkeit im Sport scheint daher ebenfalls eine ambivalente Kategorie zu sein. Denn es ist klar, dass es im Sport weder um Solidarität mit den Schwachen noch um den Ausgleich gegebener Ungleichheit geht. Ebenso ist klar, dass es im Sport nicht um die gerechte Verteilung von Gütern oder um Toleranz gehen kann. Folgt man etwa der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls, der Gerechtigkeit als Fairness behandelt, dann wird man beim Sport gar nicht von Gerechtigkeit sprechen können, dies einfach schon deshalb, weil im Sport Ungleichheit konstitutiv vorausgesetzt ist.

Tatsächlich heben einige Autoren vor allem den Aspekt der Gerechtigkeit im Sport hervor. Und sie orientieren sich dabei häufig an der Theorie von John Rawls.5 Das ist erstaunlich, da Sport bei John Rawls keine Rolle spielt6 und auch der Begriff der Fairness bei Rawls keinen Sportbezug aufweist. Es geht ihm vielmehr um Verteilungsgerechtigkeit in der Gesellschaft, nicht um Chancengleichheit im Sport.7 Das erklärt sich schon allein daraus, dass es bei Rawls um Gerechtigkeit in einem gesellschaftlichen Sinne geht, d.h. in Bezug auf Rechte und Pflichten, sowie darum, Ansprüche und Anrechte auf Güter und deren Verteilung unter gleichberechtigten Bürgern zu begründen. Das moderne Sportsystem ist aber, wie eingangs gezeigt, ein grundgesetzlich zugesicherter Freiraum und unterliegt nicht der staatlichen Verteilung von Rechten und Pflichten. Insgesamt liegt die Vermutung nahe, dass der Bezug auf die Gerechtigkeitstheorie von Rawls einer Verwechslung geschuldet ist. Während es Rawls um die notwendigen Grundlagen einer Theorie der Gesellschaft geht, für die er ein vertragstheoretisches Design wählt, geht es der Sportwissenschaft um die Rückgewinnung traditioneller Werte wie etwa Fairness unter den Bedingungen des modernen professionellen Sports. Mit vertragstheoretischen Argumenten lässt sich wohl im Sport grundsätzlich nichts ausrichten, da sowohl die Konstitutionsbedingungen als auch der systemische Rahmen des Sports reichlich kontingent sind, vertragstheoretische Grundlegungen jedoch auf rational nachvollziehbare Verbindlichkeiten für alle abzielen. Will man eine Sportethik,8 wäre ein Anschluss an Tugendethiken sicherlich sinnvoller als der Ansatz ausgehend von Rawls.

Dass es im Sport nicht um Gerechtigkeit im strengen Sinn gehen kann, ja, im Gedanken des Sportes schon Momente enthalten sind, die der Gerechtigkeit widersprechen, ließe sich auch mit Kant begründen. Hierzu gibt es eine besonders interessante Passage aus dem Nachlass, wo Kant notiert: »Aus dem Gefühle der gleichheit entspringt die Idee der Gerechtigkeit so wohl der genöthigten als der nöthigenden. Jene ist die Schuldigkeit gegen andere diese die empfundene Schuldigkeit anderer gegen mich. Damit diese ein Richtmaß im Verstande habe so können wir uns in Gedanken in die Stelle anderer setzen u. damit es nicht an Triebfedern hiezu ermangele so werden wir durch sympathie von dem Unglüke und der Gefahr anderer wie durch unser eigenes bewegt.«9

Gerechtigkeit im Sport scheint daher ebenfalls eine ambivalente Kategorie zu sein, wenn nicht sogar völlig unpassend. Denn es ist klar, dass es im Sport nicht um Solidarität mit den Schwachen oder um den Ausgleich gegebener Ungleichheit geht. Ebenso ist klar, dass es im Sport nicht um die gerechte Verteilung von Gütern oder um Toleranz gehen kann. Folgt man daher der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls, der Gerechtigkeit als Fairness behandelt, dann wird man beim Sport gar nicht von Gerechtigkeit sprechen können, dies einfach schon deshalb, weil es beim Sport nicht um den Ausgleich von Ungleichheit und dessen Legitimation geht, sondern einzig um eine bedingte, nämlich regelbedingte Chancengleichheit rein formeller Natur, die somit kein Gegenstand der Gerechtigkeit sein kann.

Ein weiteres Problem ergibt sich, das stärker die konkrete Umsetzung betrifft: Die Definition dessen, was als Doping geahndet wird, ist relativ willkürlich und beruht nicht auf einer Grundüberlegung über einen Tatbestand wie Doping, sondern auf einer Legaldefinition. Die Dopingdefinition besteht in einer Liste, die von der WADA geführt wird. In dieser Liste sind alle Substanzen und Methoden aufgeführt, deren Verwendung den Athleten und deren Betreuern verboten sind. An erster Stelle nennt die WADA »das Vorhandensein eines verbotenen Wirkstoffes, seiner Metaboliten oder Marker in den Körpergewebs- oder Körperflüssigkeitsproben eines Athleten«. Tatsächlich beschreibt diese Doping-Bestimmung ziemlich genau das, was bei einem konkreten Doping-Verdachtsfall geschieht: von einem Athleten werden Proben genommen, die in einem Labor analysiert werden; es wird festgestellt, dass Grenzwerte überschritten sind, und schließlich wird der Athlet mit Sanktionen belegt, in der Regel mit einer Wettkampfsperre. Dieses Prozedere entspricht einer gegenwärtigen Fixierung des Dopingproblems auf die Frage nach Grenzwerten und deren Überschreitung. Dies ist eine Folge der Jurifizierung des Dopings. Um eine rechtlich praktikable Dopingdefinition zu erhalten, wurden alle moralischen Implikationen aus der Dopingdefinition entfernt, weil sich gerade Begriffe wie Gesundheit, Natürlichkeit und Fairness juristisch kaum anwenden lassen. Für den Athleten treten aber dadurch Moral und Recht auseinander. Unter das Dopingsverdikt fällt praktisch nur derjenige, bei dem eine Überschreitung der Grenzwerte nachgewiesen werden kann. Der Athlet fühlt sich unschuldig, solange ihm keine positive Dopingprobe nachgewiesen werden kann. Die moralische Instanz bewegt sich vom Athleten weg und wird häufig von den Medien restituiert, die sich in die Rolle gedrängt sehen, die Moral im Sport einzuklagen. Der Athlet, der in der Regel weder Jurist noch Mediziner ist, ist Teil einer Sportmaschinerie, die durch Medikalisierung und Kodifizierung kaum noch überschaubar ist.

Das Auseinandertreten von Moral und Recht ist gleichfalls eine Entwicklung der Moderne.10 Kant hat in der Metaphysik der Sitten Recht und Moral klar geschieden. »Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität; diejenigen aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität derselben.«11 Der Grund liegt für Kant darin, dass die Moralität mit Freiheit, das heißt, mit der Autonomie des Willens gleichgesetzt wird. Gleichgesetzt deshalb, weil diese Selbstgesetzgebung der Vernunft den positiven Begriff der Freiheit ausmacht. Dass dieser strenge Begriff von Freiheit als Autonomie nur in Absehung alles Sinnlichen gedacht werden kann, hat weitreichende Folgen für den Rechtsbegriff: Die Moralität betrifft nämlich genaugenommen gar nicht die äußeren Handlungen, weil diese selbst stets Objekte der sinnlichen Welt sein müssen, sondern bloß die Handlungsgrundsätze, die Maximen. Das Recht allerdings bezieht sich nach Kant niemals auf das, was sich ein Mensch als Handlung vorgenommen hat, sondern bloß auf das, was er wirklich getan hat.

Die Trennung von Legalität und Moralität ist das Konstituens einer liberalen Rechtsordnung. Nicht alles, was unmoralisch ist, ist auch illegal und nicht alles, was legal ist, moralisch. Gleichzeitig ergibt sich damit ein weitreichendes Problem, denn die Forderung ist nicht von der Hand zu weisen, Gerechtigkeit und Recht müssten zumindest in der Gesellschaft aufeinanderbezogene Wertesysteme bilden, vor allem dann, wenn sich die Rechtssphäre ausdifferenziert und verselbständigt. Das ist vielfältig diskutiert worden, vor allem am Beispiel der Reinen Rechtslehre von Hans Kelsen, die gewöhnlich als strenger Rechtspositivismus bezeichnet wird, allerdings starke neukantianische Einflüsse zeigt. Kelsen säubert die Rechtslehre radikal von allen Abhängigkeiten von der Moral. Insofern ist die Rechtslehre rein. Kritiker weisen darauf hin, dass ein gesetztes Recht, das nicht nur als ungerecht empfunden, sondern faktisch ungerecht, wenn auch nicht Unrecht ist, das Funktionieren der Gesellschaft unterminieren würde. Diese Ambivalenz, die von allen modernen Rechtsphilosophen und Gerechtigkeitstheoretikern, wie zum Beispiel John Rawls und Jürgen Habermas, konstatiert wird, schlägt sich auch im Sport nieder. Die Verbandsnormen sind rein formale Regelungen, positiv gesetzt durch die Normgebung der WADA. Die Moral des Athleten ist davon isoliert, sie spielt offenkundig nur bei reumütigen Bekenntnissen eine Rolle, die gerne von den Medien aufgegriffen und verbreitet werden.

1 Vgl. Röthig, Peter; Prohl, Robert: »Sport (sports)«. In: Sportwissenschaftliches Lexikon. Hg.: P. Röthig / R. Prohl. (= Beiträge zur Lehre und Forschung im Sport; 49/50.) 7Schorndorf 2003, S. 493-495.

2 Decker, Wolfgang: Sport in der griechischen Antike. München 1995; Siebler, Michael: Olympia. Ort der Spiele, Ort der Götter. Stuttgart 2004; Sinn, Ulrich: Das antike Olympia. Götter, Spiel und Kunst. München 2004; Sinn, U.: Olympia. Kult, Sport und Fest in der Antike. München 1996.

3 Vgl. dagegen: Ott, Konrad: »Grundelemente der Gerechtigkeit im Sport.« In: Sportethik. Regeln – Fairneß – Doping. (Hg.) Pawlenka, Claudia. Paderborn 2004, S. 133-147, insb. S. 143.

4 Vgl.: Gerhardt, Volker: »Fairneß – die Tugend des Sports.« In: Gerhardt, Volker – Lämmer, Manfred (Hg.): Fairneß und Fairplay, St. Augustin 1993, S. 5-25.

5 Vgl.: Bockrath, Franz: »Fairneß – Erziehung im Sport – empirisch gesehen«. In: Gibt es eine Ethik des olympischen Sports? (Hg.) Bundesinstitut für Sportwissenschaft. Köln 2001, S. 75-90; Ott, Konrad: »Grundelemente der Gerechtigkeit im Sport.«

6 Konrad Ott (a. a. O.) weist auf eine Stelle bei Rawls hin (Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt 1975, S. 565-574), bei der es allerdings nicht um Sport, sondern allgemein um Spiele geht. Spiele werden dort aber erwähnt um das Funktionieren sozialer Gemeinschaften zu illustrieren und um eine Brücke zu spieltheoretischen ökonomischen Theorien zu bauen.

7 Der interessanteste Aufsatz zum Thema John Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit und Sport stammt von Konrad Ott (a. a. O). Es handelt sich wohl um den belesensten Versuch, die Theorie von John Rawls für eine Ethik des Sports fruchtbar zu machen. Interessant ist er deshalb, weil Ott sich zwar affirmativ auf Rawls bezieht, aber mehrfach und in Bezug auf zentrale Grundüberlegungen bei Rawls zugeben muss, dass der Sport eigentlich kein guter Bereich ist, der mit Hilfe einer Theorie der Gerechtigkeit zu illustrieren wäre. Die Konsequenz der Überlegungen von Ott hätten daher lauten müssen: Mit Rawls ist keine Sportethik zu machen, die den Begriff der Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt.

8 Vgl. zu dieser Diskussion: Meinberg, Eckhard: Dopingsport, S. 9-34.

9 Kant, Immanuel: »Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764-68).« In: Kant AA XX, 36.

10 Vgl.: Horster, Detlef: »Recht und Moral: Analogie, Komplementarität und Differenzen.« In: Zeitschrift für philosophische Forschung 51 (1997), 367-389.

11 Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten, AB 15.