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Doping und Natürlichkeit

Doping und Natürlichkeit – eine Aporie

Wenn vom Wert des Sports die Rede ist, wird häufig ein Konzept von Natur in Anspruch genommen. Tatsächlich kann man Körperlichkeit und Bewegung des Menschen mit seiner natürlichen Ausstattung in Verbindung bringen. So spielt die Natur einerseits eine Rolle als Maßstab und Korrektiv für den Menschen: Wir haben die Vorstellung, dass wir nicht im Gegensatz zu unserer Natur leben sollten. Andererseits ist die Natur auch ein Wert: Wir haben die Vorstellung, dass es gut ist und dass es für uns gut ist, wenn wir natürlich leben. Aus der Geschichte wissen wir, dass dieses Bewusstsein für unsere Natur sich erst entwickelt hat und dass es nicht selbstverständlich ist, was wir unter Natur verstehen. Das Naturverständnis setzt Kultur voraus.

Das Problem mit dem Naturbegriff beginnt bereits damit, dass sich schwer festlegen lässt, welcher Naturbegriff hier zugrundeliegt.1 Spätestens mit dem Beginn der Neuzeit entstehen ganz verschiedene Naturbegriffe, die sich längst nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Es gibt u. a. holistische, evolutionstheoretische, organizistische, biologische und mechanistische Naturkonzeptionen.2 Aber alle diese Konzeptionen können indes nicht in Verbindung gebracht werden mit der Authentizität des Sportgeschehens. Hier erscheint nämlich die Natur des Menschen nicht als wertfrei, sondern als positiver und daher anzustrebender Wert, der durch den Sport befördert werden soll. Eine authentische Leistung ist eine Leistung, die auf natürlichem Wege erbracht wird, und die deshalb anders und höher bewertet werden soll als eine künstlich hervorgebrachte Leistung. Dahinter steckt ein normatives Konzept der »Natur«, das neuzeitliche, besser: romantische Züge trägt. Die Natur ist demnach kein feindlicher Ort mehr, der dem Menschen fremd und unheimlich entgegensteht. Die Natur ist nicht nur Objekt, sondern sie ist auch Subjekt, der Mensch selbst ist Natur, und diese Natur ist von Natur aus gut. Das ist nicht nur moralisch gemeint, sondern greift über die Moral im eigentlichen Sinn hinaus und führte zu einer Moralisierung der Physis. Auf diese Weise wird die Natur zu einem Wert, die Natur des Menschen zu einem positiven, anstrebbaren und anzustrebenden Gut.

Zwei grundlegende Probleme der Moderne3 sind mit dem Naturbegriff verbunden: das erste betrifft die Natur des Menschen, insofern sie im Sport teleologisch gedeutet wird. So ist zu beobachten, dass der Mensch, sofern er vernünftig ist, der Natur entgegengesetzt wird, gleichzeitig wird er aber, insofern er ein biologisches Lebewesen ist, in die Natur integriert. Beide Tendenzen miteinander zu verbinden, kann als zentrale Aufgabe der Philosophie bis heute begriffen werden. Es ergeben sich zahlreiche Varianten eines moderaten Dualismus, die alle von der Einheitlichkeit des menschlichen Wesens ausgehen und unter diesen Vorzeichen die Doppelnatur des Menschen zu integrieren versuchen.

Paradigmatisch für dieses Wechselverhältnis ist die kritische Philosophie Kants, deren Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand, Neigung und Pflicht, Theorie und Praxis und der Beziehung der unterschiedenen Elemente aufeinander den Problembestand bilden, an dem sich die nachfolgenden Generationen abarbeiteten. Die radikale Antwort Fichtes bestand z. B. darin, den kategorischen Imperativ Kants und damit den Primat des Praktischen in die Forderung zu übersetzen, das, was Nicht-Ich sei, solle Ich werden. Die Welt als ganze, Natur, Tier und Mensch, werden dadurch zum Material der Pflicht. Allerdings nimmt die Leiblichkeit des Menschen bei Fichte eine besondere Rolle ein.4 Sie ist die Bedingung der Möglichkeit praktischer Wechselwirkung und insofern unmittelbarer Ausdruck seiner sittlichen Natur. Sein Körper ist der Leib eines vernünftigen Wesens. Das spricht sich für Fichte in der Bildsamkeit des menschlichen Leibes aus: »Kurz alle Thiere sind vollendet und fertig, der Mensch ist nur angedeutet, und entwor­fen,« heißt es in der Grundlage des Naturrechts, womit eine berühmte Formulierung Nietzsches vorweggenommen ist, nach der der Mensch das »noch nicht festgestellte Thier« sei. Dabei dachte Fichte keineswegs an die Leistungssteigerung im Sport, die ihm wohl eher als eine absonderliche Einseitigkeit erschienen wäre, sondern an die sittliche Verpflichtung des Menschen, sich als ganzen zu bilden. Es ist das Ziel des dopingfreien Sports, die Natur des Menschen und vor allem seine physische Leistungsfähigkeit optimal zu entwickeln, Leistungssteigerung im Rahmen natürlicher Entwicklungen zu erreichen.

Indes: Man kann die gesamte Entwicklung der Neuzeit unter der Perspektive betrachten, dass in ihr ein teleologisches Weltbild durch ein wirkkausales Paradigma nach und nach ersetzt wird. Die letzte große Revolution des Naturverständnisses geschieht dann in der Biologie, die lange Zeit die letzte Bastion teleologischer Erklärungen war. Durch die Evolutionstheorie wird die teleologische Erklärung, holzschnittartig formuliert, durch eine wirkkausale ersetzt.5 Insofern wirkt die Rede von der Natürlichkeit des Menschen als sportinternes Gut antiquiert, wie ein Übrigbleibsel aus den fernen Tagen eines noch intakten Aristotelismus. Diese Teleologie hat für den Sport noch eine weitere Bedeutung, nämlich den der Perfektibilität. Der Mensch wird nicht aufgefasst in seinem Status quo, es wird nicht sein Ist-Zustand festgesetzt, sondern seine Natur ist sein Ziel. Dies bedeutet, dass das Moment der Leistungssteigerung bereits in den Begriff der Natürlichkeit des Menschen implementiert und damit festgeschrieben wird. Im Umkehrschluss bedeutet das: der nichttrainierte Mensch, der Nichtsportler und Nichtathlet, bleibt hinter seiner Natur zurück. Diese Idee des imperfekten Menschen, der auf natürliche oder unnatürliche Weise vervollkommnet werden muss, setzt eine bestimmte anthropologische Auffassung voraus. An dieser Anthropologie knüpfen neben dem Sport auch zahlreiche andere Entwicklung der Moderne an. Man muss nicht an die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts denken, die sich exemplarisch in den betörenden Bildern der Leni Riefenstahl zeigen, sondern braucht nur den Blick schweifen zu lassen über die zahlreichen Diskussionen und Zukunftsvisionen, bei denen der Mensch durch Techniken und Prothesen, durch Medikamente oder Stimulanzien, durch Implantate oder Gentechnologie »verbessert« werden soll.

Ein zweites Problem betrifft die Unterscheidung von Natur und Kunst, Kunst im Sinne von Künstlichkeit, die schlechterdings und vor allem in Bezug auf den Menschen kaum getroffen werden kann. Die Natur steht dem Menschen nicht gegenüber, sondern der Mensch ist selbst Natur. Der Mensch hat die Natur seinen Zwecken unterworfen, hat sie entdeckt und sich verfügbar gemacht. Dabei hat der Mensch auch vor sich selbst nicht haltgemacht, er hat auch sich selbst diesen Techniken und Praktiken unterworfen. Seine Natur ist daher künstlich geworden und seine Künstlichkeit ist seine Natur, es ist seine »natürliche Künstlichkeit«, wie einmal Helmut Plessner formuliert hat. Im Sport ist diese Ununterscheidbarkeit von Natürlichkeit und Künstlichkeit offenkundig. Der moderne Sport lebt von Trainingstechniken, von gezielten Methoden der Leistungssteigerung. Sportler benutzen nicht nur zahlreiche erlaubte Medikamente, die allesamt nicht harmlos sind, sondern durchaus auch gefährlich sein können, sie nehmen ferner Nahrungsergänzungsmittel zu sich, ohne die sie zu Höchstleistungen gar nicht fähig wären. Außerdem benutzen Sie Sport- und Spielgeräte, die häufig mit großem technischem Aufwand hergestellte sind.6 Die Bewegungsabläufe sind an die Erfordernisse der Sportgeräte und Sportarten angepasst und daraufhin optimiert. Der Sport ist damit geradezu ein Paradefall für die Ununterscheidbarkeit von Natürlichkeit und Künstlichkeit. Auch das Doping ist unmittelbar von dieser Problematik betroffen. Es zeigte sich nämlich, dass auch körpereigene Substanzen, freilich durch medizintechnische Aufbereitung, leistungssteigernd sind und konsequenterweise als unerwünschte Manipulationen verboten wurden.

Der Begriff der Natürlichkeit im Sport als Kriterium für das Doping führt also in eine aussichtslose Situation. Doping zu verbieten, weil dadurch eine unnatürliche Leistungssteigerung erzielt wird, scheidet offenkundig als Begründung aus, weil bereits jedes Training »unnatürlich« ist. Man muss sich nur vor Augen halten, dass heutige Hochleistungssportler einen ganzen Stall medizinischer Betreuer um sich haben, damit sie in Wettkampf und Training optimale Leistungen bringen können. Mit einer vorgeblichen Natur des Menschen hat das nichts mehr zu tun. Mit einer vorgeblichen Natürlichkeit der Bewegung im Sport lässt sich nicht auf ein authentisches Geschehen dringen.

Dass der gegenwärtige Hochleistungssport eine Glaubwürdigkeitskrise erlebt, könnte mit seinem Verhältnis zur Natürlichkeit zu tun haben. In vielen Sportarten hat die Technisierung einen Grad erreicht, der das Sportgeschehen für den Sportfan nicht mehr nachvollziehbar macht. Man kann nicht mehr nachvollziehen, wer warum gewinnt oder verliert: der Sportler, die medizinische Abteilung oder der Sportausrüster. Noch deutlicher zeigt sich das für den Sportler selbst. Die Kluft zwischen dem technisierten Hochleistungssport und dem Freizeitsportler wird immer größer und hängt von Ressourcen ab, die nicht jedem zu Gebote stehen und jedenfalls nicht nur vom Trainingsfleiß oder von einer außergewöhnlichen körperlichen Begabung abhängen. Gleichzeitig kann der Sport auf die Kategorie der Natürlichkeit nicht verzichten. Seine Legitimation hängt durch viele Fäden mit der Natürlichkeit zusammen. Das beginnt bereits bei den zahlreichen Kompensations­strategien: Sport als Ausgleich für eine bürokratisch überregulierte Arbeitswelt, in der einseitige ›unnatürliche‹ Bewegungsabläufe dominieren. Der Sport kann daher auf ein Konzept von Natürlichkeit gar nicht verzichten. Andererseits scheitert dieses Konzept an der Technisierung des Sports – eine Aporie. Doping ist insofern als ein Ausdruck für ein Grundproblem des modernen Sports zu verstehen, der Natürlichkeit einfordert, aber auf Technik setzen muss.

1 Vgl. dazu: Schiemann, Gregor: »Natur – Kultur und ihr Anderes.« In: Sinn – Kultur – Wissenschaft. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. (Hg.) Jaeger, Friedrich – Liebsch, Burkhard – Rüsen, Jörn – Straub, Jürgen. München 2004, S. 60-75.

2 Vgl. im Zusammenhang mit dem Dopingphänomen: Binkelmann, Christoph: »Was heißt Doping auf Französisch? Rechtliche, soziale und ethische Perspektiven.« In: Was ist Doping? Fakten und Probleme der aktuellen Diskussion. (Hg.) Asmuth, Christoph. Bielefeld 2010, S. 163-190.

3 Der Begriff der Moderne ist ambivalent wie kaum ein anderer. Ich benutze ihn hier heuristisch und setze voraus, dass die einschlägigen Diskussionen bekannt sind. Grob gesagt geht es um den strukturellen Umbruch aller Lebensbereiche nach der Französischen Revolution: Säkularisierung, Individualisierung, Entwicklung und Differenzierung von Wissenschaften etc. und die damit verbundene Abkehr von traditionalen Lebens- und Wertformen. Dazu: Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburger 2005; Gay, Peter: Modernism: The Lure of Heresy. New York 2007; Gumbrecht, Hans Ulrich: Art. »Modern«, »Moderne«, »Modernität«. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (Hg.) Brunner, Otto – Conze Werner – Koselleck, Reinhart. Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93–131; Habermas Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main 1989; Niklas Luhmann, Niklas: Beobachtungen der Moderne. Wiesbaden 2006; Tönnies, Ferdinand: Geist der Neuzeit, in: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe, Bd.22, Berlin/New York 1998; Wallmann, H. Johannes: Integrale Moderne – Vision und Philosophie der Zukunft. Saarbrücken 2006; Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. 7Berlin 2002.

4 Vgl. zum Leib-/Körperbegriff bei Fichte: Bisol, Benedetta: Die Konkretion der Freiheit. Studie zum transzendentalphilosophischen Begriff des menschlichen Körpers ausgehend von der Konzeption J. G. Fichtes. Diss. München 2007; dies.: »Gewohnheit, Gewöhnung, Habitus: J. G. Fichtes Beitrag zur Durchdringung der Leiblichkeit.« In: Das Harte und das Weiche. Körper – Erfahrung – Konstruktion. (Hg.) Stache. Antje. Bielefeld 2006, S. 77-89; dies.: »Der Leib ist ein Bild des Ich. Transzendentalphilosophische Grundlagen der Leiblichkeit bei J. G. Fichte.« In: (Hg.) Asmuth, Christoph: Transzendentalphilosophie und Person. Leiblichkeit – Interpersonalität – Anerkennung. Bielefeld 2007, S. 45-64; dies.: »Bewegung des Lernens – Lernen der Bewegung: Skizze einer Theorie der körperlichen Bewegung ausgehend von J. G. Fichte.« In: (Hg.) Stache, Antje: Fahrrad – Person – Organismus. Zur Konstruktion menschlicher Körperlichkeit. Frankfurt a. M./Berlin/Bern 2008; Frischmann, Bärbel – Mohr, Georg: »Leib und Person bei Descartes und Fichte.« In: Menschliche Körper in Bewegung. Philosophische Modelle und Konzepte der Sportwissenschaft. (Hg.) Schürmann, Volker. Frankfurt a. M. 2001, S. 154-177; Stache, Antje: Der Körper als Mitte: Zur Dynamisierung des Körperbegriffes unter praktischem Anspruch. Diss. Berlin 2008.

5 Vgl.: Asmuth, Christoph – Poser, Hans, Evolution. Modell – Methode – Paradigma. Würzburg 2007

6 Vgl.: König, Eugen: »Ethik und die Zweckrationalität des technologischen Sports.« In: Pawlenka, Claudia: Sportethik: Regeln – Fairneß – Doping. Paderborn 2004, S. 199-211; ders.: »Kritik des Dopings: Der Nihilismus des technologischen Sports und die Antiquiertheit der Sportethik.« In: Gebauer, Gunter (Hg.): Olympische Spiele – die andere Utopie der Moderne. Olympia zwischen Kult und Droge. Frankfurt a. M. 1996, S. 223-244. – Kritisch zu diesem Ansatz: Meinberg, Eckhard: Dopingsport – im Brennpunkt der Ethik. Hamburg 2008, S. 25-34.

 

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