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Dopingdefinitionen - Normativität und biochemische Analyse

 

Normativität und biochemische Analyse

»Eine Probe aus dem April 2009 ließ die ISU – ein unübliches Verfahren – sowohl in Kreischa (Ergebnis: 2,4 Prozent) als auch in Lausanne (1,3) untersuchen. Die extreme Differenz ist für Manager Grengel der Beweis: Auch den 95 Proben, auf die sich die Anklage stützt, könne man nicht trauen. Thieme [Dopinglabor Kreischa] führt eine andere Erklärung ins Feld: Die ISU lässt alle Blutproben von einer Maschine namens Advia untersuchen. Das Labor in Lausanne besitzt jedoch kein Advia-Gerät, musste also auf dem Konkurrenzmodell Sysmex testen. ‚Sysmex-Werte sind aber immer niedriger, da werden Äpfel mit Birnen verglichen.‘ Der Grenzwert von 2,4 Prozent sei auf Advia-Messungen zugeschnitten. Blutexperten wie der Nürnberger Pharmakologe Fritz Sörgel gehen davon aus, dass die ISU die Schwankungen, die zwischen den Werten verschiedener Labore bestehen, berücksichtigt hat. Das sei allgemeine Routine, ‚sonst könnte man überhaupt keine Studien machen‘. Der Biostatistiker Pierre Sottas (Lausanne) hatte in dem ISU-Verfahren vorgetragen, nur bei einem von 10000 Sportlern seien bisher Werte wie bei Pechstein aufgetreten.«1

»Für jeden Gerätetypus brauche es eigene Grenzwerte.«2

Derlei Presseberichte drücken den medialen Reflex auf naturwissenschaftliche Forschungspraxis, hier insbesondere die biochemische Analyse von Urin- bzw. Blutproben, aus. Der Bereich der Dopinganalytik bildet neben der Listenpolitik der World-Anti-Doping-Agency (WADA) den zweiten wesentlichen Bereich einer naturwissenschaftlichen Definition des Dopings.3 Werden auf Basis der Verbotsliste (als positiv gesetztes Recht) bestimmte Substanzen als verboten deklariert, liegt Doping als ein zu ahndender Regelverstoß erst dann vor, wenn (a) ein Nachweis erbracht wurde oder (b) zumindest ein Indizienbeweis vorliegt. Das Kontrolllabor generiert also das Faktum, das juristisch zur Feststellung eines Regelverstoßes dient, durch einen positiven Test. Damit kommt dem Kontrolllabor die entscheidende Funktion zu, Fakten zu schaffen. Diese Funktionszuweisung entspricht dabei dem gängigen Verständnis naturwissenschaftlicher Forschung, die mittels ihrer Untersuchungsmethoden in der Lage ist, präzise, d.h. meist quantitative, Daten über empirische Sachverhalte zu liefern. Dem liegt in erkenntnistheoretischer Hinsicht eine realistische Perspektive zugrunde, derzufolge die Naturwissenschaften bestimmte Ausschnitte der Wirklichkeit so wiedergeben können, wie sie de facto sind. In Bezug auf die Dopingthematik folgt daraus, dass die biochemische Analyse verlässliche Auskunft darüber geben soll, ob und ggf. in welcher Menge sich bestimmte exogene Stoffe im Körper eines Athleten befinden.4 Des weiteren umfasst die Analyse auch den Anteil verschiedener endogener Bestandteile, insbesondere des Blutes.

Die Analyseresultate werden nun gleichzeitig mit solch großer Selbstverständlichkeit als objektiv akzeptiert und vor allem juridisch instrumentalisiert, mit der auch ihre methodische Konstruktion offenkundig ist. Wie Herr Sörgel andeutet, ist die statistische Vermittlung von Resultaten ein integraler Bestandteil biochemischer Analyse, die Relativität von Messungen also methodisches Allgemeingut – zumindest unter Naturwissenschaftlern. Um also überhaupt zu nominell eindeutigen Resultaten, mittels derer sich Verstöße gegen Anti-Doping-Bestimmungen feststellen lassen, zu gelangen, lesen biochemische Analysen solche Werte nicht bloß einfach deskriptiv aus den Proben ab, sondern der Analyseprozess selbst unterliegt verschiedenen normativen Entscheidungsprozessen. Als normativ werden hier solche Momente bezeichnet, in denen der Naturwissenschaftler eine Entscheidung treffen muss, die sich nicht unmittelbar aus dem Probenmaterial ergibt, sondern mittels derer das Probenmaterial überhaupt untersucht werden kann. Solche Entscheidungen beinhalten die Auswahl des Untersuchungsgeräts, das Kalibrierungsverfahren, die Festlegung statistischer Referenzgrößen, aber auch schon die Aufbewahrung und Lagerung der Proben sowie deren Entnahmezeitpunkt. Der biochemische Analyseprozess unterliegt strukturell solchen methodischen Entscheidungen, die das Ergebnis auf vielfältige Weise beeinflussen können. Davon betroffen ist ebenso die juridische Verwertung dieser Resultate.

Die biochemisch konstatierten Fakten, also Substanzanalysen und Blut-/Urinwerte, beziehen ihre Eindeutigkeit und Prägnanz aus einem dem deskriptiven Gehalt der Ergebnisse vorhergehenden normativen Entscheidungsprozess auf methodischer Ebene. Diesen konstruktiven Charakter gilt es hinsichtlich der Dopinganalytik zu verdeutlichen, weil daran eine entscheidende Ambivalenz in der Dopingthematik verdeutlicht werden kann: Die als gegeben und gültig interpretierten Analyseresultate biochemischer Dopinganalytik werden durch die Anti-Doping-Organisationen in einen juridischen Kontext überführt, in dem sie als Beweismittel fungieren sollen. Diese juridische Transformation muss zwangsläufig den konstruktiv und normativ durchsetzten Entstehungsprozess dieser Fakten ignorieren, da gerade eindeutige Beweise gefragt sind, um einen Athleten des Dopings anzuklagen. Eine solche ergebnisorientierte Interpretation naturwissenschaftlicher Daten führt aber ihrerseits nur dazu, dass die in den Analyseprozess eingegangenen methodischen Vorentscheidungen in ihren Auswirkungen auf die Resultate nicht mehr berücksichtigt werden können. Dies wäre aber dringend geraten, damit man weiß, welchen normativen Charakter die Analyseresultate und schließlich welchen Aussagewert selbige haben. Wie in allen Bereichen, in denen naturwissenschaftlich generierte Fakten zu Widersprüchen in der Beurteilung von Sachverhalten führen, entsteht hier für die jeweiligen Entscheidungsträger ein Dilemma: Man muss sich auf sogenannte Fakten berufen, von denen bekannt ist, dass sie in hohem Maße konstruiert sind. Das Dilemma wird nun nicht dadurch gelöst, dass man in einen Relativismus angesichts naturwissenschaftlicher Fakten verfällt. Vielmehr gilt es, zunächst die unterschiedlichen Faktoren in der methodischen Genese solcher Fakten genau zu identifizieren, um daran anschließend die Auswirkungen dieser Faktoren benenn- und vor allem steuerbar machen zu können.

1. Wie wird ein Dopingvergehen feststellbar?

Um ein Dopingvergehen auf Basis eines biochemischen Nachweises bestimmen zu können, bilden Grenz- bzw. Referenzwerte eine der wesentlichen methodischen Instrumentarien. In ihnen konzentriert sich geichsam das normative Handeln im Sinne einer Entscheidungsfindung: gedopt oder nicht gedopt? Man könnte hier anmerken, dass eine biochemische Analyse zunächst nur das qualitative oder quantitative Vorhandensein einer bestimmten Substanz nachweist und das Urteil über den Sportler dem Verband obliegt. Allerdings beruht das juristische Urteil auch wieder auf der biochemischen Festlegung bestimmter bzw. erlaubter Grenzwerte, so dass kein Weg an der biochemischen Genese der Resultate vorbeiführt. Obschon des häufig erhobenen naturwissenschaftlichen Objektivitätsanspruches, nämlich dass naturwissenschaftliche Analysen die Fakten der Wirklichkeit benennen, sind biochemische Analyseprozesse durchsetzt von normativen Entscheidungsfindungen – normativ insofern, als dass eine Grenz- oder Referenzwertfestsetzung wie auch deren Bestimmung nicht auf einer vermeintlich klaren Faktenlage beruht, die nur ausgelesen zu werden bräuchte. Man könnte dies als das Ideal einer »deskriptiven Objektivität« bezeichnen: Objektive Sachverhalte sind insofern deskriptiv festzustellen, als naturwissenschaftliche Analyseverfahren diese Sachverhalte lediglich so beschreiben, wie sie de facto vorkommen. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, handelt es sich bei der den Analyseprozessen inhärenten Normativität dahingehend um ein willkürliches Handeln, dass der Laborant bestimmte Entscheidungen treffen muss, um erstens überhaupt zu Messdaten zu kommen und um zweitens die teils erheblichen Unterschiede zwischen heterogenen Messdaten zu vermitteln, um so zu einem nominell eindeutigen Resultat zu gelangen. In der Regel sind eindeutige Ergebnisse, also die Benennung eines konkreten Wertes, nur mittels einer statistischen Vermittlung zu haben. Hinzu kommen weitere – laborexterne – Einflussfaktoren wie der Zustand des Athleten oder der Zeitpunkt der Probennahme.

1.1 Grenz- und Referenzwerte

Die Anti-Doping-Bemühungen beruhen auf Grenz-, aber auch auf Normalwerten bezüglich des Gesundheitszustandes von Athleten und Nicht-Athleten. Im Rahmen der TUE-Praxis (therapeutic use exemption) rekurriert der WADA-Code auf einen Normalzustand körperlicher Gesundheit: Eine TUE ist dann zulässig, wenn der therapeutische Gebrauch zu keiner zusätzlichen Leistungssteigerung führen würde, die auch im Rahmen einer Herstellung des gesundheitlichen Normalzustandes unter legalen medizinischen Bedingungen zu erwarten wäre (»no additional enhancement of performance other than that which might be anticipated by a return to a state of normal health following the treatment of a legitimate medical condition«5). Neben dieser eher abstrakten Benennung eines gesundheitlichen Normalzustandes findet sich im WADA-Code bzw. in den entsprechenden Standards ein ganz konkreter Grenzwert für die erforderliche Urindichte wieder, um der Manipulation durch Verdünnung vorzubeugen. D.h. es gibt so etwas wie »Normalurin«. Weiterhin enthält die Liste der Minimum Required Performance Levels6 Grenzwerte für verschiedene Substanzen, die einem quantitativen Verbot unterliegen. Substanzen wie Anabolika sind generell bzw. qualitativ verboten. Die Erhöhung eines unter Normalwert liegenden endogenen Hormonlevels (»'low-normal' levels of any endogenous hormone«7) stellt zudem keinen therapeutischen Ausnahmegrund dar. Die WADA-Statuten veranschlagen hier einen Normalwert für Hormonkonzentrationen.

Besondere Aufmerksamkeit verdient die Unterscheidung in endogene und exogene Stoffe. Laut WADA-Code bezieht sich der Begriff »endogen« auf einen Stoff, der vom Körper auf natürlichem Wege produziert werden kann“, während exogene Stoffe »nicht auf natürlichem Wege«8 produziert werden können. Der Beurteilung des Gehalts entsprechender Substanzen im Organismus des Athleten liegt die Abweichung »vom beim Menschen anzutreffenden Normbereich« zugrunde, während der Athlet im Falle einer Abweichung von dieser Norm nachzuweisen hat, dass diese »einem physiologischen oder pathologischen Zustand zuzuschreiben ist.«9 Auch hier stellt sich die Frage nach dem Normbereich, da die WADA die Kriterien für positive Ergebnisse anhand vom Messwerten festsetzt, die »mit einer normalen endogenen Produktion«10 nicht vereinbar sind.

1.2 Messverfahren

Die Laboratoriumsmedizin bietet ein ganzes Arsenal an Messmethoden. In der Dopinganalytik kommen insbesondere die Massenspektrometrie, Gaschromatographie und Hochleistungsflüssigkeitschromatografie zum Einsatz. Mittels dieser Verfahren können Proben hinsichtlich ihrer Zusammensetzung analysiert werden. Immunoassays dienen auf Basis einer Antigen-Antikörper-Reaktion dazu, bestimmte Stoffe qualitativ oder auch quantitativ nachzuweisen.11 In den verschiedenen biochemischen Analyseprozessen werden unterschiedliche Geräte verschiedener Hersteller verwendet, wobei die endgültigen Analyseergebnisse erst aus einem Prozess statistischer Berechnung resultieren. Die konkreten Zahlenwerte bzw. die qualitativen Resultate (positiv/negativ) folgen insofern keinem ausschließlich deskriptiven Geltungsanspruch, als dass sie einer methodischen Konstruktion unterliegen. Insbesondere gilt, dass es keine für alle Analyseverfahren verbindlichen Referenzwerte gibt, was sich konkret darin niederschlägt, dass unterschiedliche Labore zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, obwohl teils dieselben Geräte eingesetzt werden. Folgende Faktoren führen dazu, dass biochemische Analyseprozesse einer vermeintlich deskriptiven Objektivität beraubt werden:

  • die Verwendung verschiedener Geräte

  • Bei der Vielzahl der Techniken muss eine Referenztechnik (gold standard) etabliert werden.

  • Es dienen unterschiedliche Referenzwerte für die statistische Ermittlung eines Resultats.

  • Verschiedene externe Faktoren beeinflussen die relevanten Messgrößen, insbesondere Zeitpunkt der Probenentnahme und der Zustand des Athleten.

  • Das Ausgangsmaterial (Proben) kann sich durch Transportwege verändern.

Wie das Anfangszitat bereits deutlich gezeigt hat, liefern unterschiedliche Geräte zur Blutanalyse verschiedene Ergebnisse. Der Hersteller Sysmex ist mit der X-CLASS-Serie vertreten, von Siemens stammt ein Modell namens Advia, die beide unter anderem zur Retikulozytenzählung eingesetzt werden können. Wie soll man nun damit umgehen, dass die Resultate der Retikulozytenzählung beider Maschinen im Fall ein und derselben Probe Pechsteins zwischen 1,32 und 2,4% schwanken? Diese Geräteproblematik wird weiterhin dadurch erschwert, dass selbst die Ergebnisse ein und derselben Probe auf ein und demselben Gerät in unterschiedlichen Laboren erheblich schwanken können. Beispielsweise variieren Resultate einer Probe zur Retikulozytenzählung, die einen Zielwert von 1,15 hat, zwischen 0,747 und 1,56.12 Hierzu bietet das Referenzinstitut für Bioanalytik genügend Anschauungsmaterial auf Basis von Ringversuchen, die zur Qualitätssicherung durchgeführt werden.13 Wie Fritz Sörgel nach SZ-Angaben anmerkt, müssen Messschwankungen generell statistisch vermittelt werden. Die Kritik bezieht sich hier daher zunächst auf eine gegebenenfalls einseitige Interpretation der Ergebisse durch die ISU, da eine statistische Vermittlung in der biochemischen Analysepraxis gängig ist. Die Notwendigkeit »interner und externer Qualitätskontrollen« bezüglich zugrundeliegender »%HbCO-Bestimmungen im relevanten Messbereich«14 entsteht auch bei der Verwendung von Blutgasanalysatoren. Zudem sollten zwecks Genauigkeit und Vergleichbarkeit der Ergebnisse immer ein und dasselbe Gerät eingesetzt werden. Am Beispiel der Tumorerkennung mittels des prostataspezifischen Antigens verdeutlichen Gurr u.a., inwiefern bei der »Anwendung der Leitlinien [für die Früherkennung; P.G.] […] methodenspezifische Charakteristika berücksichtigt werden«15 müssen: Eine möglichst genaue Bestimmung hängt in starkem Maße von der Kenntnis »analytischer Impräzision und intraindividueller biologischer Variation«16 ab – beides Faktoren, die dem Analysten einen großen Spielraum eröffnen und der durch eine Deskription nicht mehr zu füllen ist. Um überhaupt zu einem Resultat im Sinne einer Deskription vermeintlich wirklicher Sachverhalte zu gelangen, sind vielfältige Abwägungen und Entscheidungen notwendig. Der präskriptive Anteil an naturwissenschaftlichen Resultaten ist nicht nur irreduzibel, sondern konstitutiv für analytische Prozesse.

2 Die juridische Verwertung biochemischer Analysen

Will man derlei Resultate aber als Fakten nutzen, um einem Sportler einen Verstoß gegen Anti-Doping-Bestimmungen vorzuwerfen, müssen auf zwei Ebenen normative Entscheidungen getroffen werden:

  1. Auf der Ebene der biochemischen Analyse fließen vielfältige Vorentscheidungen hinsichtlich der Geräteauswahl, der Kalibrierung und insbesondere der Festelegung statistischer Refefenzgrößen in die Ergebnisbestimmung ein. Wichtig ist dabei, dass die daraus entstehenden Unterschiede aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht als generelle Unmöglichkeit einer präzisen Messung aufgefasst werden.17 Hier gilt also, dass die Ambivalenz von Messungen explizit berücksichtigt wird.

  2. Auf der Ebene der (sport)rechtlichen Beurteilung einer Probenanalyse durch eine Anti-Doping-Organisation kann die implizite Normativität von Analyseergebnissen aber nicht berücksichtigt werden, sofern diese Ergebnisse als Dopingnachweise herangezogen werden sollen. Den Organsiationen bleibt dann nichts anderes übrig, als die Laborergebnisse faktisch zu akzeptieren.

2.1 Die Gemengelage illustriert am Fall Pechstein

Im Fall Pechstein zeigt sich die Vermengung beider Ebenen in aller Deutlichkeit. Während die Indizien einerseits für ein Dopingvergehen sprechen, kann andererseits bezweifelt werden, ob die Analyse nur eines Blutwertes ausreichend ist. Aus wissenschafstheoretischer Perspektive ist insbesondere hervorzuheben, wie die Zweifel seitens Pechstein an der normativen Entscheidung durch die ISU (zweite bzw. juristische Ebene) durch einen Verweis auf die erste Ebene der biochemischen Analyse begründet werden. Somit wird in dem Verfahren vor allem die biochemische Genese von Analyseresultaten (erste Ebene) thematisiert. Verfahrensrechtliche Fragen18 spielen natürlich auch eine wichtige Rolle, doch liegt der Hauptakzent der Causa Pechstein auf ihrem Retikulozytenwert und dessen Bestimmung.

Pechstein beruft sich in ihrer Kritik auf den hier angeführten konstruktiven Charakter biochemischer Analyseverfahren:19

  • Nichtbefolgung der Internationalen Standards für Kontrollen und Labors

  • Der von der ISU festgelegte Grenzwert von 2,4% Retikulozyten entspreche nicht den medizinischen Standards.

  • Externe Faktoren wie Transport und Lagerung der Proben und Entnahmezeitpunkt würden die Messergebnisse verfälschen.

  • Messschwankungen bei Analysegeräten

  • Die Tatsache, dass die Hämoglobin- und Hämatokritwerte innerhalb des erlaubten Bereichs lagen und nur der Retikulozytenwert erhöht ist, verweist auf eine chronische Blutkrankheit oder eine genetische Anomalie.

Die ISU weiß allerdings ebenso präzise zu antworten und führt u. a. an,20 dass

  • der Gebrauch der Advia 120 zur Retikulozytenzählung ordnungsgemäß erfolgte,

  • das Blut Pechsteins ausgerechnet zum Zeitpunkt wichtiger Wettkämpfe extrem erhöhte Werte aufwies,

  • die erzielten Wettkampfzeiten in Anbetracht des Alters und »her progressive decline […] surprinsingly good«21 waren,

  • Pechstein im Januar und Februar die Whereabout-Verpflichtungen nur schwerlich erfüllt hat,

  • eine Blutkrankheit zu konstant anomalen Werten führen müsste,

  • etwaige Messungenauigkeiten ebenso bei anderen Athleten hätten auftreten müssen, was nicht der Fall ist.

Der CAS hat insgesamt und eindeutig ein Urteil zugunsten der ISU gefällt. Zunächst gilt, dass die ISU nicht die Absicht der Athletin auf Blutdoping nachzuweisen hat. Hinsichttlich des Standard of Proof22 gilt, dass ein »proof beyond reasonable doubt«23 nur in strafrechtlichen Prozessen, worunter Dopingfälle nicht fallen, verlangt ist. Dementgegen reiche in Dopingfragen das Niveau der »‚comfortable satisfaction‘«24 aus, womit die Anforderungen an die Dopinganalytik geringer als in Strafrechtsprozessen ausfallen. Im Zusammenhang mit der Blood Samples' Collection25 macht der CAS den wichtigen Unterschied zwischen Blutproben zwecks Anti-Doping-Kontrollen und zwecks »blood testing« bzw. »profiling purposes«26. Letztere unterliegen nicht den WADA-Standards für Proben bzw. Laboratorien und können daher ohne »complex laboratory operations«27 hinsichtlich der hämatologischen Werte analysiert werden. Die WADA-Statuten bzw. -Standards gelten also nur dann, wenn Körperflüssigkeitsproben explizit zur Dopingkontrolle entnommen werden. Allerdings fragt es sich hier, inwiefern Blutwerte einerseits zwecks Profilerstellung in einem Dopingfall herangezogen werden können, wenn diese andererseits nicht den Doping-Kontroll-Richtlinien unterliegen. Streng genommen müssten die Beweismittel des indirekten Nachweises auch als dopingrelevante Proben zählen.

Neben den Fragen bezüglich der Chain of Custody und der Transmission and Storage of Values in the ISU Data Base28, die der CAS allesamt positiv beantwortet, spielt die Advia-Maschine eine der Hauptrollen im Verfahren.29 Experten haben dem CAS bestätigt, dass es sich bei der Advia-Maschine um ein zuverlässiges Gerät handelt, sofern diese richtig kalibriert ist. Um den Messunterschieden unterschiedlicher Gerätetypen zu begegnen, folgt der CAS implizit der labormedizinischen Forderung nach einem gold standard, d.h. nach der Etablierung eines Gerätetypus, der als Referenztechnik gelten kann. Damit werden Blutwerte vergleichbar, sofern die Proben immer auf ein und demselben Gerät gemessen werden. Die Zuverlässigkeit, d.h. insbesondere eine korrekte Kalibrierung, soll das eigens für Sportveranstaltungen entwickelte Protokoll Using the Advia 120 for Sports Events sicherstellen. Die durch einen weiteren Experten bestätigte und sachgemäß ausgeführte Einstellung der Advia-Maschine überzeugte den CAS, dass Messfehler auf der Ebene des Geräts auszuschließen sind.

Die Beurteilung der Blutwerte Pechsteins hinsichtlich Inter-individual abnormality of the Athlete's high reticulocytes percentage30 basiert auf naturwissenschaftlichen Referenzbereichen für Normalwerte, die selbst der durch Pechstein bestellte Gutachter bestätigt hat. Damit kann der CAS eine Abweichung von Normalwerten feststellen, nachdem Pechstein zeigen wollte, dass selbst ein Retikulozytenwert von 4,1% bei Frauen noch normal sein kann. Allerdings beruht dieser Wert noch auf einer manuellen Zählung, die seit Mitte der 1990er Jahre durch die automatischen Zählverfahren abgelöst wurde. Auch die weiteren Einwände Pechsteins hinsichtlich der interindividuellen Abweichung und einer möglichen Blutanomalie kann der CAS nicht akzeptieren, sofern er sich auf medizinische Expertise beruft.31

In allen Entscheidungen drückt sich die oben angezeigte normative Ambivalenz aus: Um zu juristisch handhabbaren Aussagen zu gelangen, muss der Konstruktionsprozess biochemischer Analyseresultate als abgeschlossen betrachtet werden. Dass dieser Prozess nicht abgeschlossen sein kann, liegt einerseits im Wesen naturwissenschaftlicher Forschung bzw. im Fortschrittspostulat inbegriffen. Andererseits muss aber so getan werden, als ob ein eindeutiges Ergebnis erreicht wird. Für diese letzte Entscheidung liefern die biochemischen Resultate nur Indizien, insbesondere Erfahrungswerte im Umgang mit den entsprechenden Geräten. Wissenschaftstheoretisch ist hier hervorzuheben, dass die juristische Instrumentalisierung von Messdaten anderen Kriterien folgt als denjenigen, die dem eigentlichen Analyseprozess zugrunde liegen. Allgemein formuliert: Der Naturwissenschaftler kann immer nur eine bedingte Aussage treffen: Die Ergebnisse gelten unter Berücksichtigung des aktuellen Standes der Technik. Der Richter muss aber keine Aussage, sondern ein Urteil fällen: Die Ergebnisse bedeuten schuldig oder nicht schuldig. Der Unterschied zwischen Aussage und Urteil liegt in theoretischer Hinsicht darin, dass das juristische Urteil von der Relativität der naturwissenschaftlichen Aussage abstrahieren muss, um seine Funktion im Sinne einer eindeutigen Aussage, die dann als juristisches Urteil fungiert, erfüllen zu können. Die juristische Feststellung eines Dopingvergehens beruht also auf einem Abstraktionsprozess naturwissenschaftlicher Daten, der seinerseits wiederum das Resultat eines normativen Entscheidungsprozesses bildet. Der Richter muss sich dabei einerseits an den naturwissenschaftlichen Fakten orientieren und dabei die genannte Abstraktion vollziehen, während sein Urteil letztlich auf einer normativen Entscheidung der Bewertung dieser Fakten beruht, also ganz andere Kriterien wie diejenigen, die für die naturwissenschaftliche Erkenntnisgenese gelten, heranziehen muss.

Schlussbetrachtungen

Hat die medizinisch-pharmakologische Dopingdefinition eine Ambivalenz zwischen Therapie und Leistung ergeben, die nach weiteren Kriterien zur Beurteilung der Wirkung von Präparaten verlangt, zeigt sich auch in biochemischer Hinsicht eine strukturelle Schwäche in der aktuellen Dopingdefinition. Die konstitutive Normativität in biochemischen Analyseprozessen führt dazu, dass Fakten nicht direkt bestimmt werden können, sondern einer komplexen Vermittlung durch Messverfahren und statistische Berechnungen unterliegen. Es gibt in der Forschung genügend Hinweise, wie insbesondere externe Störfaktoren (v. a. Zeitpunkt der Probennahme) neutralisiert werden können. Auch die Entwicklung der Geräte und Untersuchungsverfahren selbst macht Fortschritte hin zu einem gold stand-
ard
.

Ebenso wie Festsetzung von Grenzwerten für Substanzen unterliegen noch vielmehr indirekte Nachweismethoden den diversen biochemischen Normsetzungsprozessen, die solange nicht angezweifelt werden, als dass die Übereinstimmung gilt, sie seien korrekt erfüllt worden, d.h. das dopinganalytische Messverfahren ist ordnungsgemäß bzw. entsprechend dem Stand der Technik angewandt worden. Eine solche Übereinstimmung vor allem unter den Anti-Doping-Organisationen bildet den für die juristische Praxis notwendigen Abbruch des sich immer stellenden Begründungsregresses, denn die als gültig akzeptierten biochemischen Verfahren unterliegen ihrerseits einem ebensolchen Übereinstimmungskontext. Es muss betont werden, dass diese Übereinstimmung sicherlich nicht rein beliebig zustande kommt, sondern sich auch teils an bereits etablierten medizinischen Fakten und einem entsprechend bewährten Basiswissen orientiert. Andererseits kann ein auch noch so präzises Faktenwissen nie letztgültig über den rechtlichen Diskurs entscheiden, da die normative Bewertung naturwissenschaftlicher Faktenbestände nicht mehr in den Aufgabenbereich der Naturwissenschaften fällt. Für die Dopingdiskussion scheint diese Ambivalenz aber noch nicht ausreichend geklärt. So wie der Fall Pechstein einerseits die strikte Anwendung von Anti-Doping-Bestimmungen exemplifiziert und damit indirekten Nachweisverfahren den Weg bahnt, sind die unbegründeten normativen Setzungen ebenso offenkundig – man denke dabei an die Berücksichtigung nur eines Blutwertes oder an die Festsetzung der Advia-Maschine als Standard.

Aus wissenschaftstheoretischer Sicht muss weiterhin gefragt werden, welchen über den eigentlichen Kontext der biochemischen Analyse hinausgehenden Zweck bestimmte Messresultate zu erfüllen haben bzw. wie Daten entsprechend aufbereitet werden müssen, dass sie juristisch instrumentalisiert werden können. Damit ist nicht gesagt, dass die eigentlichen Analyseresultate aufgrund des konstruktiven Charakters unbrauchbar seien. Ganz im Gegenteil liefern die sich stets weiterentwickelnden Verfahren zunehmend präzisere Werte. Aber eben die weitere Verwendung solcher Daten müsste den konstruktiven Charakter berücksichtigen, es müsste also insbesondere geklärt werden, nach welchen Kriterien die Wahrscheinlichkeit naturwissenschaftlicher Aussagen in eine juristische Urteilsfähigkeit transformiert werden kann. Wenn dabei herauskommt, dass aus datenschutzrechtlichen oder anderen Gründen, nicht die erforderliche Präzision in der Erhebung des Datenmaterials möglich ist, dann dürften solche Daten nicht juristisch instrumentalisiert werden. Die weitere Analyse zielt also insbesondere auf die Kriterien ab, nach denen auf der biochemischen und juristischen Ebene heterogene Aussagen zu nominell eindeutigen Bestimmungen vereinheitlicht und damit Fakten geschaffen werden. Dass eine solche Vereinheitlichung notwendig ist, steht außer Frage. Allerdings müssten die Kriterien hier klar und transparent benannt werden können bzw. weiter entwickelt werden.

 

1Catuogno, C. – Bartens, W. – Kistner, T.: »Der Fall Pechstein: ‚Grobes Schrot in alle Richtungen‘, in: http://www.sueddeutsche.de/sport/998/483445/text/ (Aufruf vom 31.10.2009).

2Kistner, T.: „Dopingaffäre Pechstein: Heikle Fragen«, in: http://www.sueddeutsche.de/sport/359/491723/text/ (Aufruf vom 31.10.2009).

3Vgl. zur Listenpolitik vom Verfasser »Die Ambivalenz zwischen Therapie und Leistung.«In: (Hg.) Asmuth, C.: Was ist Doping? Fakten und Probleme der aktuellen Diskussion. Bielefeld 2010, S. 121-142.

4Die Unterscheidung in endogene und exogene Stoffe spielt insofern eine wichtige Rolle, als dass exogene Stoffe eine Fremdproduktion und eine künstliche Zuführung voraussetzen. Allerdings ist es fraglich, ob eine eindeutige Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdproduktion überhaupt zu treffen ist.

5World-Anti-Doping-Agency: International Standard for Therapeutic Use Exemptions. Montreal 2008b, S. 13.

6World-Anti-Doping-Agency: Minimum Required Performance Levels for Detection of Prohibited Substances. 2008a.

7Ebd.

8World-Anti-Doping-Agency: Die Verbotsliste 2009. (http://www.wada-ama.org/rtecontent/document/2009_Prohibited_List_GER_Fin...), S. 5.

9Ebd., S. 4.

10Ebd., S. 5.

11Zur Dopinganalytik siehe Thevis, M. – Schänzer, W.: »Detektion ausgewählter makromolekularer Substanzen und Manipulationsversuche in der Dopinganalytik.« In: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 3/2009a, S. 70-72.

12Quelle unter: http://www.dgkl-rfb.de/4daction/g_show_plotNEW/00000000000000
000000RE0912_010126
.

13Siehe dazu die Resultate diverser Ringversuche unter http://www.dgkl-rfb.de/. Auch ergeben sich beispielsweise »nicht als austauschbar zu betrachten[de]« (Weippert, M. – Kreuzfeld, S.– Arndt, D. – Stoll, R.: »Vergleich eines mobilen Laktatmessgerätes mit einem Laboranalysegerät – LactateScout vs. Miniphotometer 8.« In: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 2/2008, S. 46-49, hier S. 46) Ergebnisse bei Laktatmessgeräten.

14Ulrich, G. – Strunz, J.– Frese, F.– Bärtsch, P. – Friedmann-Bette, B.: »Blutgasanalysatoren beeinflussen Ergebnis der Gesamtkörperhämoglobinbestimmung mittels optimierter CO-Rückatmungsmethode.« In: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 7-8/2009, S. 239; %HbCO bezeichnet die Änderungen der Carboxyhämoglobin-Fraktion, anhand derer das Gesamtkörperhämoglobin bestimmt wird. Diese Größe fungiert hier demnach als Referenzgröße und kann zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.

15Gurr, E. – Kronig, F. – Golbeck, A. – Arzideh, F.: »Grenzen bei der Ermittlung laborinterner Richtwerte, aufgezeigt am Beispiel des Prostata-spezifischen Antigens (PSA).« In: Journal of Laboratory and Clinical Medicine 33/2009, S. 67-70, hier: S. 67.

16Ebd., S. 70.

17Aus wissenschaftstheoretischer Sicht müssen vielmehr die Ursachen einer statistischen Vermittlung untersucht werden, also wie es dazu kommt, dass unterschiedliche Ergebnisse bei gleicher Ausgangslage gemessen werden.

18Vgl. dazu Court of Arbitration for Sport (CAS): A/1912/-1913 Pechstein, DESG v/ISU. http://www.tas-cas.org/d2wfiles/document/3802/5048/0/FINAL%20AWARD%20PECHSTEIN.pdf Lausanne 2009, Ziffer 80-86 (DESG's Standing to Appeal), Ziffer 87-93 (The Timely Filing of the Statement of Complaint by the ISU), Ziffer 94-103 (Ms Pechstein's Consent to the Procedures Followed by the ISU) und Ziffer 104-111 (The Retroactivity Issue).

19Vgl. dazu ebd., Ziffer 45-54.

20Vgl. dazu ebd., Ziffer 60-70.

21Ebd., Ziffer 68.

22Vgl. ebd., Ziffer 123-126.

23Ebd., Ziffer 125.

24Ebd., Ziffer 124.

25Vgl. ebd., Ziffer 127-138.

26Ebd., Ziffer 135.

27Ebd.

28Vgl. ebd., Ziffer 139-148 bzw. 162-169.

29Vgl. ebd., Ziffer 149-161.

30Vgl. ebd., Ziffer 171-177.

31Vgl. dazu Intra-individual abnormality of the Athlete's high reticulocytes percentage (Ziffer 178-190) und Explanation for the Athlete's abnormality high reticulocytes percentage (Ziffer 191-211).

 

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